Obsession
rechtfertigte er sich zynisch, dann war es auch egal,
welcher Art von Fotografie er nachging.
Doch manchmal konnte er sich noch selbst überraschen.
Es gab eine Aufnahme von Jacob, bei der er selbst jetzt noch dachte, dass ihm etwas Besonderes gelungen war. Da sich der Junge
seiner Umwelt kaum bewusst war, war er ein ideales Fotoobjekt. Vorausgesetzt, Ben benutzte keinen Blitz und der Auslöser war
nicht zu laut, ließ sich Jacob in seinem Tun nicht stören und nahm die Kamera überhaupt nicht wahr. Bei dieser Gelegenheit,
nur wenige Wochen bevor bei ihm Autismus diagnostiziert worden war, hatte er durch seine gespreizten Finger ferngesehen und
dabei mit der Hand gewedelt, um einen Stroboeffekt zu erzeugen. Als Ben es einmal ausprobiert hatte, hatten ihm die Augen
wehgetan, Jacob aber konnte offenbar nicht davon lassen.
Ben hatte schon fast den ganzen Film verschossen und mit verschiedenen Belichtungszeiten experimentiert, um die Bewegung der
Finger einzufangen. Das Schöne daran, Jacob zu fotografieren, war, dass man sich alle Zeit der Welt lassen konnte. Ben hatte
die Schärfe für eine letzte Nahaufnahme eingestellt und gerade auf den Auslöser gedrückt, als Jacob |86| direkt zu ihm schaute. Einen Moment später hatte er sich schon wieder dem Fernseher zugewandt, für diesen kurzen Augenblick
aber war sein unerwartetes Zurückstarren seltsam beunruhigend gewesen. Ben hatte die Kamera mit dem Gefühl gesenkt, dass er
durchschaut worden war.
Doch erst als er den Film entwickelt hatte, war er sicher gewesen, dass er genau den entscheidenden Moment eingefangen hatte.
Auf fünfunddreißig von den sechsunddreißig Aufnahmen schaute Jacob von der Kamera weg, nur auf der letzten sah er direkt in
die Linse. Glasklar blickten seine goldgesprenkelten Augen durch seine in der Bewegung verschwommenen Finger. Ben hatte beim
Anblick des Fotos den gleichen Schock gespürt wie bei der Aufnahme. Vor Jahren, als er an einem Projekt für sein Studium arbeitete,
hatte er schon einmal ein ähnliches Gefühl gehabt. Ein Cafébesitzer hatte ihm erlaubt, seine Kamera in einem dunklen Hinterzimmer
aufzustellen, von wo er ins Lokal schauen konnte, ohne von den Gästen gesehen zu werden. Er war völlig in seiner voyeuristischen
Position versunken gewesen, bis sich ein Mann umdrehte und direkt zu ihm blickte. Ben war erstarrt wie ein auf frischer Tat
ertappter Dieb. Der Mann hatte wieder weggesehen, nichts deutete darauf hin, dass er ihn wahrgenommen hatte, doch Ben brach
das Fotoshooting kurz darauf ab und nahm es nie wieder auf. Die Sicherheit seines Verstecks hatte sich als Illusion erwiesen.
Er hatte sich entblößt gefühlt. Durchschaut.
Das Foto von Jacob löste das gleiche Gefühl in ihm aus. Es war beunruhigend, aber das machte es auch so wirkungsvoll. Als
er das Bild Sarah zeigte, hatte sie es eine Weile betrachtet und dann schnell zurückgegeben.
«Es ist schrecklich.»
Er versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken |87| zu lassen. Sie hatte ihn entschuldigend angelächelt, aber in ihren Augen lag eine tiefe Traurigkeit.
«Entschuldige, das war taktlos von mir. Als Foto ist es wirklich sehr gut, aber ...» Sie schlang die Arme um sich. «Er sieht darauf so ... so anders aus, das ist alles. Kalt. Und dann guckt er auch noch so durch die Finger. Als wäre er in einem Käfig.»
Ben sagte ihr nicht, dass er genau deshalb so zufrieden war mit dem Foto. In dieser einzelnen Aufnahme zeigte sich das ganze
Ausmaß von Jacobs Isolation, von seiner
Andersartigkeit
. Er hatte das Foto weggelegt und Sarah später ein Bild gezeigt, auf dem Jacob lachte, weil er wusste, dass es ihr gefallen
würde. Aber er hatte das andere aufbewahrt, und obwohl er es aus Rücksicht auf Sarah nicht einmal im Atelier aufhängte, hatte
es einen Ehrenplatz in seiner Mappe erhalten. Näher war er seinen ursprünglichen Idealen nie gekommen.
Keines der Fotos, die er mittlerweile produzierte, erfüllte ihn auch nur annähernd mit einer solchen Zufriedenheit. Aber er
hatte Freude an seinem Beruf, den er trotz allem gut machte. Während er auf eine Nachricht des Detektivs wartete, stürzte
er sich in die Arbeit, um unter der Flut der Aufträge jeden anderen Gedanken zu versenken. Quilley hatte gesagt, er würde
sich bis Ende der Woche melden, und als sich das Wochenende näherte, spannten sich Bens Nerven an wie die Saiten einer Harfe,
die bei der kleinsten Berührung zu schwingen begannen.
Am
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