Ocean Rose. Erwartung (German Edition)
betrachtete ihn über den Rand seiner Brille hinweg. »Dass Caleb mich im Stich gelassen hat. Und das nur für ein höheres Gehalt, das er vielleicht in zehn Jahren verdienen wird, und für ein paar Schickimicki-Polohemden.« Er runzelte die Stirn. »Mir nicht Bescheid zu sagen ist eine Sache, aber den eigenen Bruder anzulügen? Das hätte für ihn doch wohl ein ziemlich klares Zeichen sein müssen, dass an seiner Entscheidung etwas falsch ist.«
»Captain, ich verstehe nicht … Sie meinen, Caleb hat den Job hingeschmissen? Um woanders ein paar Dollar mehr zu verdienen?«
»Und für kostenlose Polohemden. Davon kannst du dir auch welche kaufen. Wie ich gehört habe, werden die im Souvenirshop verhökert.« Er wandte sich ab und zog einen gelben Angelkasten aus dem Regal über seinem kleinen Metalltisch. »Beim Lighthouse gibt es alles im Schickimicki-Stil: Geschenkladen, Restaurant, Maniküre, Massage …«
»Caleb hat Sie für das Lighthouse Wellness Resort sitzenlassen?«, fragte ich. Die Hotelanlage war letzten Sommer eröffnet worden und hatte sich schnell einen Ruf als die exklusivste, teuerste Location im Umkreis von hundert Meilen erworben. Die Einheimischen hatten sich dagegen gewehrt, aber das Projekt war von einigen einflussreichen Sommergästen durchgedrückt worden, die vor allem deshalb die Baugenehmigung bekamen, weil auf diese Weise Hunderte neuer Jobs geschaffen werden sollten.
»Das ergibt keinen Sinn«, sagte Simon. »Er hat es geliebt, hier zu arbeiten. Jedes Jahr am Columbus Day, wenn die letzten Boote für den Winter abgetakelt wurden, hat er die Tage gezählt, bis sie am Memorial Day wieder aufs Wasser kamen.«
Captain Monty wühlte in den Fächern des Angelkastens herum. »Ich habe ihn auch gerne hier gehabt. Dein Bruder war ein guter Junge, ein anständiger Arbeiter. Aber so ist es eben, Dinge ändern sich. Aus Jungen werden Erwachsene. Er hat seine Wahl getroffen, und deshalb bin ich ihm nicht böse. Ich wünschte nur, er hätte das Herz gehabt, es mir persönlich zu sagen.«
»Tschuldigung, dass ich frage, aber wenn Caleb nicht selbst mit Ihnen geredet hat … von wem wissen Sie das alles?«
Der Captain schaute zu Simon hoch. »Hast du von Carsons gehört? Den sie gerade angeschwemmt auf Mercury Island gefunden haben?«
»Ja«, antworteten Simon und ich gleichzeitig.
Captain Monty nickte. »Von dem habe ich es erfahren. Er war einer der Geldgeber für das Lighthouse Resort . Letzten Sommer, nachdem Cal sich drei Tage nicht hatte blicken lassen, ohne auch nur anzurufen, kam er hier in die Hafenmeisterei. Er wollte sich vorstellen und mir dafür danken, dass ich ihm diesen tollen jungen Mann für die Hafenjobs geschickt hatte, um ihn im Namen der Stadt willkommenzu heißen. Könnt ihr euch das vorstellen?« Er machte ein ungläubiges Geräusch. »Na ja, jedenfalls war das anscheinend, was Cal denen beim Lighthouse erzählt hat. So hat er sich dort präsentiert, also habe ich sie in dem Glauben gelassen.«
»Entschuldigung, aber …«
Ich hielt den Atem an.
»Carsons ist schon am Ende des letzten Sommers hergekommen, um Ihnen für Caleb zu danken?«
»Am zwanzigsten August«, sagte Captain Monty. »Beim Wettbewerb im Haiangeln. Ich erinnere mich daran, weil dein Bruder sonst immer so begeistert davon war, die Haie ausmessen zu dürfen.«
Simon starrte Captain Monty erwartungsvoll an, als würde er auf das »April, April« warten, das natürlich nicht kam. Ich wusste, was Simon in diesem Moment dachte: Wie war das möglich? Dass er nichts davon mitbekommen hatte? Dass Caleb nie mit ihm gesprochen hatte? Dass ein ganzes Jahr vergangen war und niemand ihm davon erzählt hatte?
Mit solchen Fragen war ich selbst nur allzu vertraut.
Der Captain betrachtete Simon. »Ist alles in Ordnung? Ich meine, abgesehen von der Tatsache, dass du keine Ahnung hattest, womit dein kleiner Bruder ein Jahr lang neben der Schule beschäftigt war?«
Ich schaute zu Boden. Inzwischen musste Simon sich fragen, ob er Caleb überhaupt als vermisst betrachten sollte. Vielleicht hatte sein Bruder noch etwas anderes am Laufen gehabt, von dem zu erzählen er sich ebenfalls nicht die Mühe gemacht hatte?
»Alles okay«, sagte Simon. »Nur ein paar Probleme mit der Kommunikation, schätze ich.«
»Kann jedem passieren. Warte nur, bis die Sache mit euch beiden ernst wird – dann werdet ihr ständig aneinander vorbeireden.«
Ich lächelte höflich, als er mir zuzwinkerte.
»Passt auf euch auf«, rief der
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