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Ocean Rose. Erwartung (German Edition)

Ocean Rose. Erwartung (German Edition)

Titel: Ocean Rose. Erwartung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tricia Rayburn
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sondern auch aus den Kronleuchtern über mir, aus den Gemälden an den Wänden und dem Teppich zu meinen Füßen.
    Du bist schon so weit gekommen … Bitte, geh nicht fort …
    Ich marschierte schneller und versuchte mit einem scharfen Kopfschütteln, alle auftauchenden Bilder zu verscheuchen: heulende Sirenen und rot blinkende Lichter;gelblich rote Flecken auf grauer Haut; meine Schwester, die im Meerwasser stand und ihre skelettartigen Arme nach mir ausstreckte.
    Als ich den Fuß auf die erste Treppenstufe nach unten setzte, wurde es im Haus plötzlich ganz still. Ich blieb stehen und hielt den Atem an. Nichts. Kein pulsender Jazz. Kein Gezeter vom Ende des Flurs. Nicht einmal das Geräusch des Regens auf dem Dach.
    »Vanessa?«
    Im Spiegel, der mir gegenüber an der Wand hing, sah ich meine aufgerissenen Augen und mein bleiches Gesicht. Die Stimme hatte weder Paige noch Zara gehört. Und hinter mir befand sich niemand. Der Flur war leer.
    »Jetzt hast du völlig den Verstand verloren«, sagte ich zu meinem Spiegelbild und wollte weiter die Treppe runtergehen. »Offiziell reif für die Klapse.«
    »Vanessa?«, fragte die Stimme erneut.
    Ich erstarrte, und mein Puls dröhnte bis in die Ohren.
    »Bist du das …?«
    Die Stimme kam vom anderen Ende des Flures, also nicht einmal aus der Nähe von Zaras Zimmer. Ich starrte auf die Stufen vor mir und befahl meinen Füßen, sich zu bewegen.
    Und schließlich taten sie das auch – wieder nach oben und den Korridor entlang.
    Mein Pulsschlag ließ mir fast die Adern platzen, und in meinen Fingern und Zehen kribbelte es wie wild. Meine innere Stimme warnte mich, flehte mich an, umzudrehen und aus dem Haus zu verschwinden. Aber ich ignorierte sie. Zwar schienen all meine Muskeln und Nerven darum zu kämpfen, mich in die andere Richtung zu zerren, doch ich musste einfach nachschauen, wer mich gerufen hatte.
    Mich ließ der Gedanke nicht los: Was wäre, wenn …
    Was wäre, wenn es tatsächlich Justine war? Was wäre, wenn sie entgegen aller Logik (und trotz der Diagnose des Gerichtsmediziners, trotz des Begräbnisses und der Trauerfeier) in Wirklichkeit noch immer hier war? Das klang natürlich verrückt … aber war es wirklich schwerer zu glauben als alles, was ich in letzter Zeit sonst erlebt hatte?
    Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Ein dünner, senkrechter Lichtstrahl fiel hindurch. Mit angehaltenem Atem legte ich eine Handfläche auf die Tür und drückte sie auf.
    Ich brauchte einen Augenblick, bis ich sie sah. Mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung stellte ich fest, dass es natürlich nicht Justine war.
    Vor einem Kamin saß eine ältere Frau auf einem fliederfarbenen Diwan. Sie trug eine purpurne Robe und werkelte mit Nadel und Faden an einem dünnen Stück Stoff herum. Ihr Haar war so lang und gewellt wie Rainas; vermutlich war es früher ebenfalls schwarz wie Lakritz gewesen, aber mit der Zeit war daraus eine puderige Aschefarbe geworden, die an die verbrannte Kohle unter dem Feuerholz in ihrem Kamin erinnerte. Als sie mir zulächelte, wirkten ihre Augen eher grau als silbern und schienen von einem milchigen Schleier überdeckt. Sie blickten mir nicht ins Gesicht, sondern über meinen Kopf hinweg.
    Irgendwie hatte diese Frau von meiner Anwesenheit gewusst,ohne mich gesehen zu haben. Denn sehen konnte sie nicht mehr.
    Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre auf Zehenspitzen den Flur hinunter verschwunden. Aber das tat ich nicht. Ich brachte es nicht über mich. Vielleicht, weil es sich falsch angefühlt hätte, sie zu ignorieren und in dem Glauben zu lassen, ihre noch übriggebliebenen Sinne hätten sie betrogen. Oder vielleicht, weil ihre purpurroten Wände mit Dutzenden gestickter Wandteppiche behängt waren, auf denen die Chione Cliffs prangten. Man sah sie aus verschiedenen Blickwinkeln und im ganzen Reigen der Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
    Es war aber auch möglich, dass ich dort stand und auf Justines Stimme wartete, damit sie irgendetwas zu mir sagte, ganz egal was. Ich war bereit, sie in meinem Kopf oder auch außerhalb zu hören … doch Justine schwieg.
    »Ich heiße Bettina«, sagte die Frau leise mit einer Stimme, die seidenglatt wie blankes Eis war. »Du kannst mich Betty nennen.«

K APITEL 9
    D eine Großmutter ist blind«, sagte ich, als der Ansturm auf Bettys Fischerhaus einige Stunden später nachgelassen hatte.
    »Ja«, gab Paige zur Antwort und trocknete ein Weinglas ab.
    »Sie kann nichts

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