Ocean Rose. Erwartung (German Edition)
andere Jungs, denen Zara erst die große Liebe vorgespielt und die sie dann fallengelassen hatte. Ich blätterte, bis ich das allerletzte Porträtfoto erreichte, und dann sank ich inmitten der Lichtwolke auf die Knie.
»Caleb Carmichael«, sagte ich fast unhörbar.
Er wirkte jünger als beim letzten Mal, als ich ihn oben auf den Klippen gesehen hatte. Also nahm ich an, dass dieses Schulporträt vom vorigen Jahr stammte. Er lächelte. Er wirkte glücklich. Mir wurde ganz flau im Magen vor Mitleid mit diesem jungen, fröhlichen Caleb, der keine Ahnung hatte, was einige Monate später auf ihn wartete.
Hör nicht auf, Nessa … Du darfst jetzt nicht aufhören …
Ich zwang mich, die Seite umzublättern, auch wenn ich gar nicht sehen wollte, was folgte. Bei ihrer Sammlung potentieller Verehrer hatte Zara am Ende jedes Mal vollen Erfolggehabt. Wenn sie sich Caleb als Ziel ausgesucht hatte, verzichtete ich gern auf die Einzelheiten. Zwar war es möglich, dass seine Beziehung zu Justine erst hinterher ernst geworden war, aber trotzdem wollte ich wirklich nicht wissen, was Zara mit ihm unternommen hatte oder wie lange sie gebraucht hatte, um ihn zu umgarnen. Ich wollte keinen Beweis dafür sehen, dass er für ein anderes Mädchen das Gleiche empfunden hatte wie für Justine.
»1. Mai«, las ich laut. Das Anfangsdatum war mit pinkfarbener Tinte unter eine Papierserviette geschrieben, die in der Mitte einen marineblauen Anker und am oberen Rand die Aufschrift Lighthouse Wellness Resort trug. Unter dem Datum stand nur ein einziges Wort.
Bingo.
»Mir ist egal, wie du es machst, Hauptsache, du kriegst es auf die Reihe!«
Zaras Stimme klang näher. Hastig blätterte ich weiter und stellte überrascht und erleichtert fest, dass die folgenden Seiten leer waren. Obwohl sie sich Caleb laut Scrapbook als letztes Zielobjekt ausgesucht hatte, war die Serviette das einzige Souvenir, das ihn mit Zara in Zusammenhang brachte.
Geh jetzt, Nessa … schnell …
Ich klappte das Buch zu, sprang auf die Füße und stellte es wieder an seinen Platz auf dem Regal. Das Silberlicht war verschwunden, die schneeweißen Gardinen hingen reglos vor den leeren Spiegelwänden. Meine verschiedenen Körperteile schienen wieder zusammenzuarbeiten, und als mein Gehirn den Befehl zum Losrennen gab, gehorchten meine Füße. Ich raste aus dem Raum, schloss die Tür hinter mir und hatte das andere Ende des Flurs erreicht, als Zara die Treppe heraufgestampft kam.
Leider wusste ich nicht genau, welches Zimmer Paige gehörte.Da ich Angst hatte, das falsche zu erwischen, erstarrte ich hinter einer Topfpflanze. Ich wagte kaum zu atmen, als Zara oben auf der Treppe ankam, und eine neue Schmerzattacke bohrte sich durch meinen Schädel. Zara blieb ruckartig stehen und neigte den Kopf zur Seite, als würde sie auf etwas lauschen. Glücklicherweise hatte sie mir den Rücken zugedreht. Als sie tatsächlich nicht geradewegs in ihr Zimmer ging, sondern nach rechts umschwenkte, flüchtete ich mich schnell in den nächstgelegenen Raum und zog die Tür hinter mir zu.
»Hörst du das auch?«
Ich drehte mich langsam um. Grandma Betty saß auf ihrem Sofa und hatte mir das Gesicht zugewandt. Sie hielt eine Nadel in der einen Hand und ein halbfertig gesticktes Bild in der anderen, aber ihre Finger bewegten sich nicht. Mit einem Lächeln starrte sie auf die leere Luft über meinem Kopf.
»Sie redet mit dir.«
Ich schluckte. »Wer?«, fragte ich so leise, dass ich kaum wusste, ob ich die Frage überhaupt ausgesprochen hatte. Ich trat weiter von der Tür weg, als könne Zara mir weniger tun, je näher ich ihrer Großmutter war. Die Super-Seniorin mit übernatürlichen Kräften hatte offenbar gehört, dass Zara im Korridor meinen Namen nannte. Bestimmt hörte sie nun auch Zaras Atem, ihre vom Teppich gedämpften, näher kommenden Schritte, fühlte ihre Wut über meine Anwesenheit und wusste, dass gleich etwas ganz, ganz Schlimmes passieren würde.
Grandma Bettys milchige Augen wanderten langsam von dem Punkt über meinem Kopf nach unten, bis sie mich direkt anblickten.
»Sie redet mit dir, Vanessa«, sagte sie. »Deine Schwester. Justine.«
K APITEL 12
L etzte Nacht wurden die Leichen von William O’Sell und Donald Jeffries, angespült auf den Felsen von Beacon Beach, entdeckt, einem besonders bei Wellenreitern beliebten Strand zehn Meilen von Winter Harbor. Vermutlich befanden sie sich mehrere Tage dort, bis sie gefunden und die zuständigen Stellen informiert
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