Ocean Rose. Verwandlung (German Edition)
dass eben vor unseren Augen eine ganze Busladung voller Menschen mit Müttern, Vätern, Familienangehörigen in die Katastrophe gerast war?
»Vanessa«, rief Paige. »Komm schon!«
Ich wartete, bis Dads Volvo um eine Ecke verschwand, bevor ich mich umdrehte und die Eingangstreppe hochrannte. Paige hielt mir die Tür auf und hastete dann vor mir den Schulflur entlang. Ich wollte fragen, was eigentlich so wichtig war, aber dazu lief Paige zu schnell. Der Abstand zwischen uns wurde immer größer. Als wir uns der Aula näherten, hatte Paige bereits so einen Vorsprung, dass sie nur auf die Tür vor sich zeigte, winkte und nach drinnen verschwand.
Ich befand mich noch einige Meter entfernt und überlegte gerade, ob ich den Rest der Schulstunde nicht lieber auf der Mädchentoilette verbringen sollte, als Miss Mulligan den Kopf aus der Tür steckte.
»Vanessa«, flüsterte sie durchdringend, »du bist gerade noch rechtzeitig!«
Ich wich ihrem Blick aus und entdeckte dadurch das handgeschriebene Schild neben dem Eingang der Aula.
»Der jährliche College-Kongress für Absolventen?«, las ich laut.
»Das Event, dem alle Bewerber entgegenfiebern«, verkündete Miss Mulligan.
»Klingt toll«, sagte ich und wich unauffällig zurück. »Aber ich habe später eine wichtige Matheklausur über Integralrechnung, für die ich lernen muss. Und schließlich brauche ich einen guten Notendurchschnitt, wenn ich an ein Elite-College will, richtig?«
»Ich könnte dir helfen«, ertönte eine Stimme.
Als ich herumfuhr, sah ich einen unbekannten Jungen am Wasserspender stehen, der sich mit dem Ende der Schulkrawatte den Mund abwischte, bevor er mich anlächelte.
»Ich habe jetzt eine Freistunde und bin ein super Nachhilfelehrer«, behauptete er. »Integralrechnung ist mein Spezialgebiet. Darin hatte ich Kurse seit der fünften Klasse.«
»Und wie lange ist das jetzt her?«, fragte ich.
»Drei Jahre.«
Ein Mittelstufler. Er war zu jung, um Justine gekannt zu haben, also bot er mir seine Hilfe nicht aus Mitleid an. Und da ich ihn bisher noch nie gesehen, geschweige denn mit ihm gesprochen hatte, hielt er mich wohl kaum für eine Bekannte.
»Außerdem spreche ich vier Sprachen fließend«, fuhr er fort und kam näher. »Hast du Französisch? Spanisch? Oder vielleicht …«
»Danke, aber ich komme schon zurecht. Und ich sollte wohl wirklich mal beim College-Kongress reinschauen.«
Die Enttäuschung war ihm anzusehen. Bei einer Veranstaltung mit so hochtrabendem Namen hatten Schüler wahrscheinlich nichts zu sagen, also konnte ich die Zeit nutzen, um meine Gedanken zu sortieren und in ein Notizheft zu kritzeln. Ich folgte Miss Mulligan in die Aula.
»Da drüben habe ich uns beiden einen Platz reserviert.« Sie nahm mich beim Ellbogen und steuerte mit mir in die Richtung, wo die Lehrer saßen.
Hastig schaute ich mich nach einer Alternative um. Ich suchte den Raum nach Paige ab und fand sie tatsächlich. Sie saß in der ersten Reihe und wirkte ganz gebannt von dem Vortrag. Zwar war sie von mehreren leeren Stühlen umgeben, aber ich wollte weder so nah am Podium sitzen noch den anderen Schülern aus meinem Jahrgang auffallen. Die letzte Reihe wäre ideal gewesen, leider gab es dort nur noch einen einzigen leeren Platz.
Direkt neben Parker King.
»Ich sitze lieber bei meinen Freunden«, flüsterte ich und riss mich los. »Danke für das Angebot.«
Ich wartete nicht darauf, ob sie enttäuscht oder überrascht oder beides gleichzeitig war, sondern bog in Richtung der hinteren Reihe ab, bevor ich meine Meinung ändern konnte. Entschuldigungen murmelnd, kletterte ich über ein paar Dutzend Füße und ignorierte die genervten Blicke meiner Mitschüler. Wenigstens waren fast alle weiblich, was einer der Vorteile war, wenn man sich in der Nähe von Parker King aufhielt.
»Hallo«, grüßte ich, als ich schließlich den leeren Platz erreicht hatte.
»Hi«, sagte er, ohne von seinem iPod aufzublicken.
»Ist dieser Platz noch …«
Er schaute zu mir hoch, dann auf den leeren Stuhl. »Ja, okay«, murmelte er mit einem Schulterzucken, »der ist noch frei.«
Verwundert setzte ich mich. Ein Teil von mir war erleichtert, dass Parker mich nicht sofort anhimmelte wie so viele andere Jungs. Aber meine hauptsächliche Reaktion war pure Verwirrung. Immerhin hatte er mich am ersten Schultag angesprochen, ohne auch nur von Justine zu wissen, und sich später bemüht, mich zu finden, um mir ein Foto von ihr zu geben. Erst letzte Woche hatten wir
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