Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
gute Freunde, bis er nach Amerika gefahren ist. Diese Reise hat alles kaputtgemacht, deshalb konnte Scha'ul in unser Leben treten, denn Ido war ein äußerst anständiger Mensch, ich bin es auch, ich bin ziemlich normal. Ich glaube auch nicht, daß ich mich wirklich ernsthaft mit ihm eingelassen hätte, mit Scha'ul, er übte nur einen hypnotischen Zauber auf mich aus. Tatsache ist jedenfalls, daß ich mich erleichtert fühlte, als er am Freitag nicht anrief, vor fünf Tagen.« Sie fing an zu weinen und wiederholte: »Fünf Tage, es sind erst fünf Tage.«
Michael erinnerte sich an Eli Bachars hartnäckige Frage: »Was war in Amerika? Was ist dort mit ihm passiert?«, an ihr unaufhörliches Weinen und die Antwort: »Ich weiß es nicht, wirklich, ich weiß es nicht. Ich habe ihn danach gefragt, aber er hat mir nichts gesagt, wirklich.« Er erinnerte sich auch an die Kassetten, die er zusammen mit Eli Bachar abgehört hatte, Kassetten mit Gesprächen, die Ido mit jüdischen Regimegegnern und Dissidenten geführt hatte, Dichtern und Intellektuellen, die in der Sowjetunion gelebt hatten und nun mit tiefen Stimmen Gedichte vortrugen. Michael konnte sich die Situation genau vorstellen: der ernsthafte, aufmerksame junge Mann, dessen gescheites Gesicht er im Film gesehen hatte, dasselbe Gesicht wie am Strand, dort war es aufgeschwollen und leblos gewesen. Alle Kassetten waren bezeichnet: Ort, Datum und Stunde, Namen der Gesprächspartner. Das stundenlange Abhören der Kassetten hatte nichts gebracht.
»Wie viele solcher Kassetten hat er gehabt?« fragte Eli Bachar Ruth Duda'i und hielt zwei Kassetten hoch.
»Ich weiß es nicht, ich habe sie nicht gezählt«, antwortete sie hilflos.
»In den beiden Boxen gibt es Platz für acht Kassetten«, fuhr Eli Bachar fort.
»Ich weiß es nicht«, murmelte Ruth Duda'i wieder und wieder.
Michael saß im Lesesaal, dachte an das stundenlange ergebnislose Suchen, an die ordentlichen Mappen, die sie im Schlafzimmer der Duda'is gefunden hatten, an den großen Schreibtisch, der über die Hälfte des kleinen Zimmers einnahm, an die Enge des Schlafzimmers, das zugleich als Arbeitszimmer diente, und kehrte mit einem Seufzer zu Tiroschs Aufsätzen zurück.
Als die Bibliothek geschlossen wurde, spürte Michael plötzlich nagenden Hunger, und ihm fiel ein, daß er noch nicht einmal Kaffee getrunken hatte. Der neue Kiosk, der nicht weit von der Bibliothek aufgemacht worden war, im Haus Levi, war geschlossen. Michael ging zum Parkplatz. Die Luft hatte sich schon abgekühlt, doch im Auto würde es noch immer sehr heiß sein.
Er hörte die Stimme aus dem Funkgerät durch die geschlossenen Fenster, noch bevor er den Schlüssel ins Schloß gesteckt hatte. Die Zentrale teilte mit, daß Zila um seinen Anruf bat. Er ging zum Campus zurück und telefonierte von einer öffentlichen Telefonzelle aus, die sich im Verwaltungsgebäude befand. Zilas Stimme klang besorgt: »Ich konnte dich nicht erreichen«, beschwerte sie sich. »Du warst plötzlich verschwunden. Ich sitze hier mit allen Papieren und Kassetten, und ihr seid alle weg.«
»Ich komme gleich«, sagte Michael beruhigend und schaute durch die Glastür hinaus in die Dämmerung. Während er zum Auto zurückging, dachte er, über Gasflaschen nach, über Kohlenmonoxydvergiftung und über die Möglichkeit, daß Tirosch Duda'is Mörder gewesen sein könnte.
Aber warum? fragte er sich. Ein ordentlicher Professor, berühmter Dichter, Intellektueller und Ästhet brachte seinen Doktoranden doch nicht nur deshalb um, weil dieser seine Gedichte während eines Fakultätsseminars angegriffen hatte. Ido hatte auch nicht seine Stellung bedroht. Er war zwar begabt, dachte Michael, aber das war Tirosch auch. Und warum ausgerechnet diesen Doktoranden? Hatte es zwischen ihnen wirklich Feindschaft gegeben? Und wenn sich jemand anders an den Preßluftflaschen zu schaffen gemacht hatte? Außerdem: Wenn Tirosch Ido vergiftet hatte, wer hatte dann Tirosch umgebracht? Und woher sollte dieser Intellektuelle, der Dichter, das erforderliche Wissen gehabt haben? Und woher das Kohlenmonoxyd?
Jetzt war er am Parkplatz des Migrasch ha-Russim angekommen. Er parkte das Auto, warf einen Blick auf die beleuchteten Gebäude und ging mit gemessenen Schritten zu seinem Zimmer. Dort, im Neonlicht, saß Zila über Papiere gebeugt, die sie aus demselben Sack zog, mit dem sich Eli Bachar zuvor beschäftigt hatte. Sie blickte Michael müde und enttäuscht an. »Ruh dich ein bißchen aus,
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