Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
ein, daß er damit nur seine mangelnde Größe kompensiert. Er ist ein Kämpfer, er gibt nie auf.«
Michael betrachtete Naharis kantigen Schädel, die be tont männlichen Bewegungen, die Zigarre, die er mit der Zunge befeuchtete, bevor er sie anzündete, die Art, wie er nun, da er die Zigarre in den Mund gesteckt hatte, Sarits demonstratives Husten ignorierte – er benahm sich, als spiele er den Helden in einem amerikanischen Film. Der eiskalte Blick aus den hellen, fast durchsichtigen Augen traf Michael, verursachte ihm eine Gänsehaut und brachte ihn dazu, einen Moment lang voller Panik zu denken, daß Nahari ihn einfach reinlegen wolle, ihn fertigmachen, und er hörte ihn wieder sagen: »Toll.« Diesmal trafen Naharis Augen Machluf Levi, der an der Ecke des Tisches saß, wie jemand, der es längst aufgegeben hat, seine Ehre zu retten und sich einen festen Stand zu verschaffen.
»Also, haben Sie dort eine Schüssel mit Kompott gefunden?« fragte Nahari.
»Nein«, antwortete Levi, »aber ich habe auch nicht danach gesucht, weil ich nichts von einer Schüssel wußte.«
»Ich habe gedacht«, sagte Nahari ruhig und zog an seiner Zigarre, »Sie hätten schon mit ihr geredet, wie heißt sie gleich wieder, mit dieser Simcha Malul.«
Machluf Levi blickte ihn unschlüssig an. »Aber ich habe nicht aus ihr herausgekriegt, daß sie weggegangen ist.« Er warf Awigail einen Blick zu, sie senkte den Kopf und starrte die Glasplatte an, die den Tisch bedeckte. »Manchmal«, sagte er verteidigend, »braucht man einfach eine Frau, um aus einer Frau etwas rauszukriegen.«
Michael, der sich schon vor der Sitzung übelgenommen hatte, daß er wieder mal einen schwachen und ängstlichen Menschen automatisch meinte schützen zu müssen, konnte Machluf Levis Verwirrung nicht ignorieren. »Jedenfalls wissen wir nun«, sagte er, »daß die Möglichkeit eines Selbstmords wohl auszuschließen ist. Für eine Frau mit einer schweren Lungenentzündung ist es schwer, aufzustehen, einen Schluck Parathion zu nehmen und dann noch die Flasche außerhalb des Krankenzimmers zu verstecken, ganz zu schweigen von der Schüssel mit dem Kompott.«
Als sich dann Nahari nach seinen Nachforschungen erkundigte, beschrieb Michael in wenigen Sätzen seinen Be such im Giftschuppen, und während er die trockenen Fak ten aufzählte, sah er Mojsch vor sich, wie er verzweifelt den Kopf schüttelte und sagte: »Es ist nicht da.« Beide hatten sie gebückt in dem Schuppen gestanden, auf dessen Tür, über dem alten Schloß, sich ein Hinweisschild mit einem Totenkopf und dem Hinweis befand: »Giftschuppen! Eintritt verboten!« Jojo, der sie hineingelassen und sich selbst mit der Bemerkung vorgestellt hatte: »Ich bin Elchanan, aber alle nennen mich Jojo«, stand neben ihnen.
Jojo schaute Mojsch verwirrt an. »Es war nur eine Fla sche da«, sagte er. »Ich weiß es genau, weil Srulke sie sich geholt hat, für seine Rosen. Sie hatten Läuse. Ich erinnere mich genau, daß er gesagt hat, wir müßten wieder welches bestellen, weil es das wirksamste Mittel ist.«
»Wann war das?« fragte Michael.
»Ich weiß es nicht mehr genau«, sagte Jojo und kratzte sich am Kopf. »Ein paar Tage, bevor er starb. Ein oder zwei Tage.«
»Und er hat sie nicht in den Schuppen zurückgebracht?« fragte Michael.
»Was soll ich sagen? Normalerweise hat er sie zurückgebracht, aber vielleicht hat er es wegen der ganzen Feierei, dem Jubiläum und Schawu'ot, vergessen.«
Sie schwiegen alle drei. Dann betrachtete sich Michael das Schloß, an dem er keine Spuren entdeckte, daß jemand es gewaltsam geöffnet hatte. Trotzdem packte er es in die kleine Plastiktüte und hörte sich noch einmal die Namen der Leute an, die einen Schlüssel besaßen. Dann folgte er Jojo und Mojsch zu der Scheune mit dem Baumwollsamen, direkt neben dem Giftschuppen. Dort stand er neben Mojsch auf den grauen, hart aussehenden Samenkörnern. Doch als Mojsch sich an den Bauch griff, sich hinsetzte und sagte: »Dieser Ulkus wird mich noch mal umbringen«, ließ sich Michael neben ihm nieder, auf einem Haufen Samenkörner, und spürte plötzlich, daß sie weich waren, er versank in dem Haufen und erinnerte sich, daß Mojsch die Scheune als Lieblingsspielplatz der Kinder beschrieben hatte. Sie stellten sich oben auf das hohe Geländer, sprangen in die Haufen hinein und versanken darin, als handle es sich um feinen Sand.
»Sie lieben dieses Spiel so sehr, sogar die Großen, die Jugendlichen, daß am Tag des Kindes,
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