Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
jeden Tag zweimal ausführen könne. Jawohl, denn mal ange nommen, sie wäre krank? Oder würde mit der Schule wegfah ren? Dann gäbe es niemanden, der sie ausführen würde, egal, wie viel sie auch winseln würde.
Ehe sie Rosi zu sich genommen hatten, hatte ihre Mutter gesagt, sie solle bloß nicht von ihr erwarten, dass sie nach einem ganzen Tag Arbeit und mit ihren Krampfadern mit der Hündin Gassi gehen würde, als sei sie irgendeine Dame mit Zeit für so was. Es gebe solche Damen, natürlich gebe es die, aber sie sei nun mal nicht so. So schickte sie die Hündin hin und wieder allein los, und Nesja, der aus irgendeinem Grund nicht erlaubt wurde hin auszugehen, hatte immer Angst, dass sie verloren gehen oder überfahren würde (Rosi hatte eine Schwäche für Autos, sie pflegte sich an den Reifen der parkenden Autos zu reiben, sich hinzuhocken und sie zielsicher anzupinkeln, und besonders liebte sie es, die Reifen von Joram Beneschs rotem Toyota nass zu machen, der allerdings in den letzten beiden Tagen nicht neben dem Gehsteig parkte). Normalerweise gelang es Nesja, die Hündin selbst auszuführen. Dann hielt sie krampfhaft die Lederleine fest und blieb, falls nötig, bei Baummulden und Zäunen stehen. Rosi, die nicht sonderlich groß war, zerrte immer mit Vehemenz ihrer schnüffelnden Nase nach. Manchmal war Nesja gezwungen, regelrecht mit ihr zu kämpfen, besonders wenn Nesja auf einer bestimmten Route bestand, während Rosi ihre eigenen Vorstellungen hatte. So wie jetzt zum Beispiel, als sie mit solcher Kraft in Richtung der Büsche zerrte, dass Nesja fast auf die Linien getreten wäre, was sie doch unbedingt gerade vermeiden wollte, wegen ihres geheimen Plans.
Die Leine schnitt rote Striemen in ihre Hand. Wenn die Hand zart, mit langen Fingern wäre, so wie die von Talia aus Nummer drei, die sich kleine Silberringe daran steckte, sie tanzen ließ und deren lange Fingernägel glänzend blau und grün lackiert waren, dann hätte alles anders ausgesehen. Sie warf einen Blick auf ihre rot angeschwollene Handfläche und die abgebissenen Fingernägel und seufzte.
Man kann nie wissen, wann ein Zauber zu wirken anfängt; aber wer von solchen Dingen etwas versteht, das heißt, wirklich an die Macht der Zauberei glaubt, der weiß, dass nur Geduld die Veränderung bewirken kann. Seit über einem Jahr schon hatte Nesja begriffen, dass der echte Wille mit Geduld und Beharrlichkeit auf die Probe gestellt wurde, mit Hingabe an ein fernes Ziel, auch wenn man nicht wusste, wann und ob überhaupt etwas dabei herauskam. Wenn es ihr auch heute gelingen sollte, nicht auf die Fugen zu treten (der Weg vom Hauseingang auf die Straße zählte nicht), wenn sie die Straße überqueren und bis zum Ende der Bethlehemer Landstraße gehen würde, bis zu dem verwunschenen Haus an der Ecke Rakevetstraße, es dreimal umrunden, in den Hof hineingehen und die Sachen verbrennen würde, die sie in ihrem Trainingsanzug versteckte, auch die Zauberformel sagen, danach ein Loch ausheben und die Asche darin begraben würde – wenn sie das alles täte, vielleicht könnte ihre Verwandlung dann beginnen. Und angenommen, sie würde jetzt so gehen, mit dem linken Fuß im Straßengraben und dem rechten auf dem Randstein, und so dreimal um den ganzen Block herum, vielleicht würde es dann sogar auf einen Schlag passieren, ja, warum nicht. Und die schweren braunen Locken, mit denen ihre Mutter jeden Morgen kämpfte, bis sie zu zwei kurzen, kindischen Zöpfchen geflochten waren, würden sich dann in blonde Wellen verwandeln. Und wenn schon nicht blond, dann würden sie wenigstens glatt werden, ja, warum nicht, absolut glatt und schwarz wie das Haar der vollkommenen Zohra.
Diesen Zauber hatte sie selbst erfunden, sie musste immer Dinge erfinden, denn wer sonst würde es für sie tun? Kümmerte sie irgendjemanden wirklich? Der Zauber Zohras, nur per Zufall hatte sie ihn damals gehört, hinter den fast geschlossenen Fenster läden: »Um alles zu erlangen, was du möchtest, tu alles, was ich dir befehle« – Nesja schrieb jedes Wort auf einem Zettel mit –, »schreibe mit Rouge und Safran und Rosenwasser auf zwei saubere Putzlappen aus Flachs, nimm einen mit einer grünen Kerze und tauche ihn in Schierlingsöl und zünde ihn an. Den zweiten lege unter deinen Kopf und schlafe eine Stunde« – genau da hatte sie nichts mehr gehört. Im Naturwarenladen und in der Apo theke hatte sie Rosenwasser und Safran besorgt, auch Rouge hatte sie im Supermarkt
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