Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
Valonia?«
»Fontenelle. Präg dir den Namen gut ein.«
»Kein Problem.«
»Eines Tages werde ich berühmt sein.«
»Daran zweifle ich nicht.«
»Und wie heißt du, Harry?«
»Lime.«
»Kurz und schmerzlos«, sagte sie.
»Besser als lang und dusselig.«
Ihr Lachen klang netter, als ich erwartet hatte, mädchenhaft, aber kraftvoll, und außerdem echt.
Ich wollte nicht, dass sie lachte, denn ich hatte Angst, dann an der Fröhlichkeit ihrer Stimme zu hören, dass sie einmal ein unschuldiges Kind gewesen war.
Nun sah ich, dass sie noch jünger war, als ich anfangs gedacht hatte, nicht älter als zwanzig oder einundzwanzig.
Valonias langes Haar war bisher unter dem Kragen aus Fuchspelz verborgen gewesen. Nun griff sie mit einer Hand an den Nacken und strich es heraus. Als sie den Kopf schüttelte, flog es wie gesponnenes Gold um ihr Gesicht.
»Bist du bereit dafür, dass sich die Welt verändert, Harry?«
»Das sollte ich wohl sein.«
»Alles ist so alt und müde.«
»Alles nicht«, sagte ich und sah sie bewundernd an.
Sie genoss es, bewundert zu werden.
»Man wird ihn regelrecht verehren«, sagte sie.
»Wer wird das tun?«
»Die Leute.«
»Ach ja, die.«
»Sie werden begeistert sein, wie er die Zügel in die Hand nimmt. Ordnung schafft. Sie werden sein Mitgefühl und seine Stärke lieben.«
»Und seine fantastisch hergerichteten Zähne.«
Sie lachte, doch dann sah sie mich strafend an. »Der Senator ist ein großartiger Mann, Harry. Du wärst nicht hier, wenn du das nicht glauben würdest.«
Ich durfte mich nicht dazu verlocken lassen, die Rolle aufzugeben, die ich für mich geschaffen - oder vielmehr aus einem Roman von Graham Greene geborgt - hatte. »Ehrlich
gesagt, geht es mir in erster Linie ums Geld«, sagte ich deshalb.
Valonia blickte in den Nebel, spitzte die Lippen und blies mit einem leichten Puh! die Luft aus. »Die alte, müde Welt … einfach dahin.«
»Mach das noch einmal«, bat ich.
Sie sah mich an, spitzte die Lippen und blies.
»Vielleicht«, sagte ich, »geht es mir doch nicht nur ums Geld.«
Ihre blauen Augen funkelten. »Das ewige Diskutieren, diese lästigen Debatten, die nie zu irgendetwas führen. Das wird niemand vermissen.«
»Niemand«, stimmte ich zu, insgeheim tieftraurig, dass sie noch so jung war und schon so sehr hassen konnte.
»Denen, die ständig diskutieren, wird er das Maul stopfen, Harry.«
»Es ist an der Zeit, dass jemand das tut.«
»Und letztendlich wird es ihnen gefallen.«
Sie sog heftig die Luft ein, als wollte sie ihre verstopfte Nase freibekommen.
»Dieser endlose Streit«, fuhr sie fort, »wo wir doch wissen, dass diese Fragen schon lange geklärt sind.«
»Vor einer halben Ewigkeit«, stimmte ich zu.
Erneut ein heftiges Schnauben. »Die Leute werden so dankbar für die Neue Moralität sein.«
Die Großbuchstaben hörte ich in Valonias Tonfall.
»Glaubst du daran, Harry?«
»Voll und ganz. Außerdem ist da ja noch das Geld.«
»Es ist so schön, an etwas zu glauben.«
»Du wirst so lebendig, wenn du das Wort aussprichst.«
»Glauben«, sagte sie mit kindlicher Sehnsucht. »Glauben.«
Sie sog geräuschvoll die Luft ein. Zweimal.
»Diese verfluchten Allergien«, sagte sie klagend und griff in ihre Manteltasche, als wollte sie ein Taschentuch herausziehen.
Unter meinem Sweatshirt zog ich die Pistole hervor, die hinten im Hosenbund steckte. Sie enthielt noch zwei Patronen.
Valonias kompakte Pistole, eine Damenwaffe, aber tödlich, blieb im Futter der Manteltasche hängen, als ihre Besitzerin versuchte, sie zu ziehen.
»Tu’s nicht, Valonia.«
Das Futter zerriss.
»Bitte«, sagte ich.
Die Pistole zuckte hoch, und voller Leidenschaft, ihren Glauben zu verteidigen, feuerte Valonia blindlings los.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie das Sicherheitsglas des Fensters neben meinem Kopf sich vom Einschussloch aus in ein Gewebe feiner Linien verwandelte.
Ich drückte ein einziges Mal ab, nicht nur, um zu verwunden, denn das hätte nichts genützt.
Ihr golden schimmerndes Haar wirbelte durch die Luft, als sie unter der Wucht des Geschosses zusammenzuckte. Sie ließ die kleine Pistole fallen, und dann brach sie zusammen, bis sie mit dem Gesicht nach oben auf dem fleckigen, verschmutzten Boden lag.
Rasch griff ich nach ihrer Pistole und kniete mich neben sie.
Ihre Augen waren offen, aber noch nicht leer. Sie starrte etwas an, vielleicht eine Erinnerung, und dann mich.
»Jetzt werde ich sie nie sehen …«, sagte sie.
Als ich ihre
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