Öffne deine Seele (German Edition)
für mich getan haben, mit dem Gefühl zurückbleiben, dass ich mich gegen ihn entschieden habe.
Tapfer, Friedrichs! Echt tapfer.
Doch das ist es nicht. Ganz und gar nicht.
Wenn ich tatsächlich Mut hätte, hätte ich in dem Augenblick, in dem Dennis mit seiner Geschichte scheinbar am Ende war …
Nein. Nein! Der Gedanke ist so nahe, so dicht unter der Oberfläche. Und doch niemals ausgesprochen.
Ich darf ihn nicht aussprechen, darf ihn nicht einmal denken .
Denn wenn ich doch am Leben bleibe …
Schritte.
Meine Gedanken kommen zum Stillstand. Ich lausche. Atemlos lausche ich in die Finsternis.
Justus hält sich im Dunkeln. Auf der Leinwand, die die Szene überdimensioniert wiedergibt, ist nichts zu erkennen.
Dort bin nur ich, und trotz anderthalbfacher Größe sehe ich winzig aus.
Ich bin zu klein, denke ich. Zu schwach.
Vielleicht ist es ganz richtig, wenn es dieses Ende nimmt. Oder zumindest logisch.
Ich bin zu wenig. Jeder dieser beiden Männer hat mehr verdient als mich.
Aber ich will leben!
Ich bäume mich in meinen Fesseln auf, reiße an ihnen, mit aller Kraft, die mir zu Gebote steht.
Mein einziger Lohn sind neue Schmerzen: Luft, die mit einem ungesunden Ächzen aus meiner Brust entweicht, als ich mich in die Gurte presse, meine Handgelenke, die längst aufgeschürft sind, wund gescheuert von den Fesseln.
Ich weiß, dass es sinnlos ist.
Diese Fesseln werden halten, selbst wenn sie bei Justus’ bisherigen Opfern nicht mehr als eine zusätzliche Sicherheitsvorkehrung waren. Diese Opfer waren betäubt, als er den Eingriff vorgenommen hat. Bei Jasmin Vedder hat Detlef Langen nicht die Spur einer Gegenwehr, nicht den geringsten Hinweis auf Gewalteinwirkung gefunden.
Detlef Langen, der über der Leiche des Mädchens geweint hat.
Ob Martin Euler ihn hinzuziehen wird, wenn alles vorbei ist?
Ob er auch über meinem Körper weinen wird?
***
«Hannah weigert sich, deine Frage zu beantworten, Marius. Es ist bereits die zweite Antwort, die sie verweigert.»
Allmählich begannen sich Albrechts Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Zumindest den Umriss des Moderators konnte er erkennen.
Und dieser Umriss hatte sich verändert.
Marius saß kerzengerade aufrecht, aufs äußerste konzentriert.
Keine Spur mehr von der Leichtfertigkeit, mit der er die Plauderei mit Dennis Friedrichs und dem Anwalt bestritten hatte.
Albrechts Hinterkopf pochte. Seit fünf Minuten massierte er den Punkt an seiner Nasenwurzel, doch das einzige Ergebnis war, dass seine Nase nun im selben Rhythmus mitpochte.
Merz und der Ehemann – waren sie dem Täter gefolgt? Marius hatte dem Hauptkommissar einen zweiten Zettel zugeschoben: Offenbar vermutete er Folkmars Versteck im Keller. Doch hatte der Techniker selbst seine Folterkammer überhaupt schon erreicht? Winterfeldt hatte von mobilen Endgeräten gesprochen, mit denen er von jedem Punkt des Geländes aus die Signale seiner Stimme an die Lautsprecher senden konnte.
Auf dem Bildschirm war nichts zu sehen als Friedrichs, in sich zusammengesunken. Vor einigen Minuten hatte sie sich kurz in ihren Fesseln aufgebäumt, doch nun schien sie resigniert zu haben.
Einzig ihre kaum sichtbaren Atemzüge bewiesen, dass sie noch lebte.
«Sie weigert sich», bestätigte der Moderator in Richtung Kamera. «Das ist richtig. Doch du weißt so gut wie ich, mein Freund, dass der Weg in die menschliche Seele ein verworrener, ein dorniger und …»
«Bei anderen Freunden hast du weniger Geduld gehabt.»
«Auch das ist richtig.» Marius hob die Hand. «Doch wir wissen beide, dass unsere Freundin Hannah eine besondere Herausforderung darstellt! Hast du sie mir nicht gerade deswegen auf diesem Wege zugeführt, mein Freund? Wir denken ähnlich, Justus. Wir beide haben die besondere Herausforderung erkannt, die es erforderlich macht, den Zugang zu ihrer Seele aus jeder nur denkbaren Richtung zu suchen, jedes Element gebührend zu würdigen. Erst wenn sie ihre Seele vollständig erkannt hat …» Die Stimme wurde gehoben. «Erst dann kann sie auch die Frage beantworten, vor der sie gegenwärtig noch zurückschreckt: Dennis Friedrichs – oder Joachim Merz.»
«Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass ihr Beruf etwas mit dieser Frage zu tun haben soll.»
«Siehst du?» Marius schlug mit der Hand auf den Tisch. «Siehst du, mein Freund? Genau diesen Gedanken würden die allermeisten Menschen an dieser Stelle haben. Nicht aber wir, Justus. Nicht du und ich und unsere Freunde. Nicht wir, die
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