Öl auf Wasser - Roman
Fotoapparat zu holen. Ich entschied mich aber dagegen; ich wollte nichts verpassen. Ein tiefer Singsang drang schwach zu der Stelle herüber, an der ich saß. Als sie an die Wasserkante kamen, setzten sie die Bahre ab, und dann schleuderte der Leichnam das weiße Tuch wie durch ein Wunder beiseite, setzte sich auf und fing an, auf allen Vieren zu kriechen; der weiße Umhang schleifte durch den nassen Sand, bis Knie und Arme im Wasser waren, und dann setzte er sich im Wasser hin. Die anderen seufzten laut auf und gesellten sich zu der sitzenden Gestalt, bildeten hinter ihr einen Halbkreis, mit dem Rücken zu mir, das Gesicht der riesigen untergehenden Sonne zugewandt, die Arme ausgestreckt, flehend, und ihr Seufzen wandelte sich plötzlich in lautes Klagen. Das ging lange so weiter, sie wiegten sich rhythmisch hin und her, ahmten die Wellenbewegungen nach, und dann kamen sie einer nach dem anderen aus dem Wasser und machten sich auf den Weg zurück zu den Hütten.
»Sie glauben an die heilende Kraft des Meeres.«
Ich drehte mich, erschreckt von der Stimme hinter mir, um. Eine Frau, deren Gesicht ich nur undeutlich wahrnahm, weil meine Augen immer noch von der Sonne geblendet wurden, schaute mich, die Sonne im Rücken, an. Sie war groß und schlank, trug einen langen schwarzen Rock und eine grüne Bluse.
»Hallo.«
Ich stand auf.
»Sie haben den Glaubensanhängern zugeschaut.«
»Den Glaubensanhängern.«
»Ja. Sie müssen der zweite Reporter sein. Ich bin die Krankenschwester. Ich habe Ihren Freund versorgt. Ich sah sie hier entlang kommen.«
Ich zeigte auf ihre Kleidung.
»Sie sind heute nicht mit ihnen zusammen bei der Anbetung?« »Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich bin bloß die Krankenschwester.« »Aha, verstehe …«
Jetzt, da ich sie richtig sehen konnte, schätzte ich sie auf ungefähr dreißig, und obwohl sich Fältchen auf ihrem Gesicht abzeichneten, Zeichen gewohnheitsmäßigen Kummers oder Sorgens, und weiße Strähnen ihr Haar durchzogen, ließ sie das eher interessant erscheinen, anziehend in einem unkonventionellen Sinn.
»Ich heiße Rufus.«
»Und ich Gloria.«
Wir standen nebeneinander und sahen zu, wie die Prozession zwischen den Bäumen verschwand.
»Wer ist das auf der Bahre?«
»Das wissen Sie nicht?«
»Nein.«
»Das ist die Oberpriesterin. Sie haben mit den Sterbefeierlichkeiten für sie angefangen.«
»Sterbefeierlichkeiten?«
»Sie hat Anfang der Woche bekanntgegeben, dass sie stirbt. Die Prozession, die sie gerade gesehen haben, ist Teil der Feierlich keiten.«
Bevor ich ihr die nächste Frage stellen konnte, sah sie weg, und einen Augenblick lang glaubte ich, sie fände meine direkten Fragen ziemlich unhöflich, aber sie sah nicht ungehalten aus; sie schaute zu einer Wolke von Fledermäusen hoch, die unvermittelt aus den Bäumen aufgetaucht waren, keckerten, als sie in den dunkler werdenden Himmel schwärmten, im letzten Licht des Tages Possen trieben. Sie drehte sich um und winkte mir.
»Schnell, sonst kommen wir zu spät zum Abendessen.«
Ich folgte ihr den Hang hinunter und in den Skulpturengarten. »Diese Inseln waren einmal ein großes Rückzugsgebiet für Fledermäuse; jetzt gibt es hier nur noch da und dort einige Dutzend.«
»Wieso?«
Wortlos drehte sie sich um und zeigte zu den Ölfeldern am Horizont.
»Abgasfackeln. Die bringen sie um. Nicht nur die Fledermäuse, auch das andere fliegende Getier.«
Das Abendessen fand im Freien statt. In kleinen Gruppen saßen die Glaubensanhänger in ihren weißen Gewändern auf Bänken und Baumstümpfen und im Gras unter den Bäumen, aßen mit den Fingern, lachten und riefen einander hin und wieder etwas zu. In meinen Jeans und dem T-Shirt kam ich mir ein wenig fehl am Platze vor, doch da Gloria bei mir war, blieb mir erspart, der einzige zu sein, der kein weißes Gewand trug.
»Das ist Rufus.«
Ich machte händeschüttelnd die Runde und nickte höflich, wenn ich jemandem vorgestellt wurde. Wir hatten uns einer Vierergruppe angeschlossen, die nicht allzu weit von der Küche entfernt im Gras saß. Gloria meinte, ich sollte mich setzen, während sie das Essen holen ging, und als sie sich zum Gehen wandte, sah ich Naman zu uns herüberkommen, um sich zu uns zu setzen. Bald schon hatte sich eine komplizierte Diskussion um die Theologie entsponnen. Er begann, zu meinem besseren Verständnis, wie ich feststellte, mit einer kurzen Geschichte des Schreins. Ich aß und hörte zu.
Der Schrein war vor langer Zeit nach einem
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