Oelspur
hatte ihn in den rechten Oberschenkel getroffen und offenbar die Arteria femoralis zerfetzt. Unterhalb der Leiste war ein dunkles Pulsieren zu sehen, das bereits schwächer zu werden schien. Noch immer starrte er mich ungläubig an, und ich sah, dass der Schock und der Blutverlust ihn bereits erheblich geschwächt hatten. Ich stemmte mich hoch, setzte mich auf den Toilettenrand, und dann begann ich zu schreien. Ich weiß nicht mehr was, vermutlich um Hilfe.
Der Mann vor mir auf dem Boden schüttelte langsam den Kopf, als wollte er mir mitteilen, dass er das nicht für eine gute Idee hielt. Ich verstummte, holte mein Handy heraus und bekam kein Netz. Ich starrte auf das nutzlose Telefon und versuchte, langsam und gleichmäßig zu atmen.
Und dann, nach einer endlosen Minute, setzte mein Verstand wieder ein, die Panik ließ nach, und ich tat das, was ich gleich hätte tun müssen. Ich zog meinen Gürtel aus dem Hosenbund und brach bei der Klobürste den Stiel ab. Aus Helens Reisetasche holte ich ein dunkles T-Shirt, das ich zu einer dicken Kompresse zusammenfaltete. Ich deponierte den kleinen Revolver in Reichweite auf dem Toilettendeckel und kniete mich neben den Verletzten auf den Fußboden. Ich legte den Gürtel unterhalb der Leiste um den Oberschenkel, presste das T-Shirt auf die blutende Wunde und band dann das Bein ab, indem ich den Bürstenstiel unter den Gürtel schob und zweimal kräftig herumdrehte. Zum Schluss legte ich die Finger seiner Hände in Bethaltung um den Stiel. Er verstand, was ich von ihm wollte, griff zu und hielt den Stiel in Position.
Ich musste raus aus der verdammten Toilette, und zwar schleunigst. Ich hatte einen Menschen lebensgefährlich verletzt, und selbstverständlich musste ich Hilfe holen.
Vor allem aber hatte ich überhaupt keine Lust, vollständig übergeschnappt neben einem blutüberströmten Unbekannten auf dem Bahnhofsklo angetroffen zu werden. Von wem eigentlich? Seit dem Schuss mochten vielleicht knapp zehn Minuten vergangen sein, und jemand hätte ihn hören müssen. Jemand hätte mit der Bahnpolizei oder dem Sicherheitsdienst hier hereinstürmen müssen. Zumindest hätte irgendjemand hereinkommen müssen, um zu pinkeln, Kondome zu kaufen, Graffiti zu sprühen oder sich einen Schuss zu setzen. Tatsache war, dass ich mit dem blutenden Mann mir gegenüber allein war.
Und das bedeutete, dass ich in noch größeren Schwierigkeiten war, als ich gedacht hatte. Nachdem der Mann in der schwarzen Jacke die Herrentoilette betreten hatte, musste jemand die Öffentlichkeit irgendwie ausgesperrt haben. Kein großes Problem. Ein glaubwürdiges Schild an der Tür und ein oder zwei Typen in Handwerkerklamotten hatten wahrscheinlich ausgereicht, die Leute kurzzeitig fernzuhalten. Und mit Sicherheit hatten sie damit gerechnet, dass es keinesfalls länger als fünf Minuten dauern dürfte, mir die Tasche wegzunehmen und mich … ja was? Ich hatte keine Ahnung. Nur eines wusste ich: Er hätte mir die Tasche einfach wegnehmen sollen, als die Gelegenheit dazu da war. Wenn er nicht so verdammt scharf darauf gewesen wäre, meinen Kopf in der Kloschüssel zu sehen, hätte er jetzt ein paar Liter Blut mehr.
Aber wenn er draußen noch Leute hatte, mussten die den Schuss auf jeden Fall gehört haben. Warum waren sie nicht hereingekommen? Weil sie nicht wissen konnten, dass in Helens Tasche eine Pistole war. Weil sie selbstverständlich davon ausgegangen waren, dass er geschossen hatte, und das bedeutete, dass … Ich hatte ihn nicht wirklich aus den Augen gelassen, aber die Angst und das fieberhafte Nachdenken hatten einen Teil meiner Wahrnehmung offenbar blockiert. Seine rechte Hand hatte den Klobürstenknebel losgelassen, war in der Jacke verschwunden und tauchte jetzt mit einer stupsnasigen, dunkel glänzenden Pistole wieder auf. Er versuchte sie auf meinen Bauch zu richten, hatte aber einfach nicht mehr die Kraft dazu und ließ die Hand resigniert in den Schoß sinken. Ich nahm ihm die Waffe weg und schubste sie unter der Trennwand durch in die Nachbartoilette. »Be aware of limbo dancers«, hatte jemand in Sitzaugenhöhe an die Wand geschrieben.
Ich wollte nur noch raus, aber das war gar nicht so einfach, denn mein Gegenüber blockierte die nach innen aufgehende Tür. Ich hätte ihn nicht bewegen können, ohne jede Menge Blut abzubekommen, und ich wollte ihn auch nicht anfassen. Also steckte ich Helens Pistole ein, knautschte die Reisetasche zusammen, drückte sie unter der Wand durch in die
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