Oelspur
leckschlägt, tritt das ganze Öl sofort ungehindert aus. Neu gebaute Tanker müssen eine doppelte Außenhülle haben. Seit der Havarie der Exxon Valdez in Alaska lassen die Amerikaner gar keine Einhüllentanker mehr in ihre Hoheitsgewässer. Die Dicke der Stahlhaut beträgt aber oft auch nur zwei bis drei Zentimeter, was keinen sehr großen Schutz bietet.«
»Soll das heißen, dass die Doppelhülle überhaupt nichts bringt?«, fragte Mischka.
Petersen zuckte mit den Schultern.
»Ein entscheidender Faktor ist die Wartung. Doppelhüllen sind hilfreich bei Kollisionen, aber weder die Erika noch die Prestige sind kollidiert, sondern untergegangen wegen mangelhafter Wartung und Ermüdung der Außenhaut beziehungsweise Rissen. Doppelhüllen sind auch durch Korrosion besonders gefährdet, weil die aggressive Seeluft in den Leerräumen ideale Angriffsbedingungen findet. Ich würde sogar behaupten, ein schlecht gewarteter Doppelhüllentanker ist besonders gefährlich, weil zum Beispiel Ladung aus den Tanks in die Doppelhülle tropfen, dort verdampfen und sich durch statische Entladungen entzünden kann. Eine solche Verpuffung hat katastrophale Folgen, das Schiff sinkt wie ein Stein. Na ja, und dann gibt es Risiken, die einfach durch die enorme Größe der Schiffe entstehen. Bei diesigem Wetter kann der Kapitän den Bug des Schiffes gar nicht mehr sehen, und ein Tanker, der mit einer Geschwindigkeit von fünfzehn Knoten fährt, hat einen Bremsweg von acht Kilometern.«
Petersen hatte seine Pfeife fertig gestopft und setzte sie nun mit dem ganzen umständlichen Brimborium des passionierten Pfeiferauchers in Brand. Gelassen ignorierte er Mischkas bedenkliches Gesicht und Annas demonstratives Hüsteln. Ich freute mich auf ein bisschen Passivrauchen.
»Wisst ihr, was Billigflaggen sind?«, fragte er.
»Klar«, sagte Mischka. »Kaum ein Schiffseigner lässt sein Schiff noch in Europa oder Nordamerika registrieren. Ist viel zu teuer, weil er dann den strengen amerikanischen oder europäischen Vorschriften, Sozialgesetzen und Steuern unterliegt. Wenn die Flagge von Panama am Heck weht, gelten an Bord die Gesetze von Panama. Niedrige Löhne, lässige Kontrollen und lächerliche Steuern. Äußerst beliebt sind auch Liberia, Tonga und die Bahamas.«
Petersen nickte bedächtig. Er war jetzt in eine dichte Wolke von nach Vanille und Pflaumen duftendem Tabakrauch eingehüllt, der bei mir ein leichtes, angenehmes Schwindelgefühl hervorrief. Anna und Mischka waren deutlich abgerückt.
»Das System der Billigflaggen hat zahlreiche Konsequenzen. So sind zum Beispiel die Schiffsbesatzungen aus aller Herren Ländern zusammengewürfelt und schlecht ausgebildet. An Bord herrscht ein babylonisches Sprachengemisch, und im Ernstfall weiß oft keiner, was er tun muss oder was die Kommandos bedeuten. Dieses Sprachengewirr wird nur noch übertroffen von den chaotischen Haftungsbestimmungen, wenn wirklich eine größere Katastrophe passiert.«
»Eigentlich müsste es doch auch für Schiffe so eine Art TÜV geben«, sagte Anna nachdenklich.
»Gibt es auch. Zunächst mal ist da die International Maritime Organization, kurz IMO genannt. Das ist eine UNO-Organisation, die für internationale Richtlinien zur Sicherheit und Reinhaltung der Meere verantwortlich ist. Die sitzen in London. Dann gibt es eine große Menge privater internationaler Klassifizierungsgesellschaften, die für Geld Schiffe begutachten und entsprechende Zertifikate zum Beispiel für Hochseetüchtigkeit erstellen: in den USA das American Bureau of Shipping, in Japan den Nippon Kaiji Kiokai, in China die China Classification Society, in Deutschland den Germanischen Lloyd und in Italien das Registro Italiano Navale, um nur einige zu nennen. Insgesamt gibt es zehn große, international renommierte Gesellschaften und etwa dreißig kleinere. Die Italiener sind in letzter Zeit ziemlich ins Gerede gekommen.«
Petersens Pfeife war ausgegangen und wurde jetzt mit entsprechendem Besteck kräftig vertikutiert und wieder angezündet. Das Vanilla-Plumcake-Aroma war verschwunden und hatte einem beißenden Gestank Platz gemacht. Auf Annas und Mischkas Gesichtern spiegelte sich eine Mischung aus Faszination und Abscheu, aber niemand hielt es für eine gute Idee, Ole Petersen zu unterbrechen.
»Sowohl der Erika als auch dem Chemietanker Ievoli Sun, der im Oktober 2000 im Ärmelkanal unterging, hatte die italienische Gesellschaft trotz offensichtlicher technischer Mängel Seetüchtigkeit
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