Oelspur
noch die Sauna in Gang gesetzt hat.«
Einundzwanzig
Z
wei Tage später fuhren wir nach Lettland. Anna hatte sich um die Tickets für die Fähre und die Hotelbuchung gekümmert und mir großzügig das Steuer ihres VW-Busses überlassen, sodass die Fahrt nach Rostock, zumindest für mich, deutlich entspannter verlief als beim ersten Mal.
»Das Schiff geht um 18 Uhr«, sagte Anna fröhlich, »und wir müssen zwei Stunden vorher da sein. Also drück auf den Hebel!«
Ich musste daran denken, dass auch Helen sich über meinen beschaulichen Fahrstil permanent mokiert hatte, aber 100 km/h waren für den alten Bus definitiv schnell genug.
»Wenn du keine Flugangst hättest, säßen wir jetzt gar nicht in diesem Auto und brauchten auch nicht 24 Stunden auf einer bescheuerten Fähre herumzuhängen.«
»Es sind fast 27 Stunden, aber es wird dir gefallen. Scandlines ist eine hervorragende Linie, skandinavische Fähren sind sowieso Spitze, unser Schiff auch. Heißt URD, frag mich nicht, warum. 186 Passagiere, 172 Meter lang und macht satte 17,5 Knoten …«
»Ist ja Wahnsinn. Soll ich dir mal erzählen, wie lange der Flug mit Air Baltic von Hamburg nach Riga dauert?«
Anna schniefte beleidigt und schwieg dann eisern, bis wir Rostock erreichten. Wir stellten den Bus in einem Parkhaus in Hafennähe ab und machten uns auf den Weg, um die Formalitäten zu erledigen. Als Anna das Schiff sah, kehrte ihre gute Laune zurück.
»Das ist doch mal was anderes als so ein blöder Flieger«, sagte sie glücklich.
Wir hatten eine Außenkabine gebucht, die ein Etagenbett, einen Tisch und zwei Stühle sowie einen an der Decke montierten Fernseher enthielt. Anna war entschlossen, es gut zu finden.
»Na, was sagst du? Beinfreiheit ohne Ende, Farbfernseher – und wir werden garantiert nicht abstürzen. Jetzt mach verdammt noch mal ein anderes Gesicht!«
Es war bereits dunkel geworden. Wir verstauten unser Gepäck und zogen dann los, um das Schiff zu besichtigen. Es gab einen Laden mit dem üblichen Duty-free-Angebot, einen Salon mit Spielautomaten und ein Selbstbedienungsrestaurant, in dem sich nach dem Ablegen der Fähre sofort scheinbar alle Fahrgäste eingefunden hatten. Während die URD hell erleuchtet wie ein Christbaum in die unruhige Ostsee hinausstampfte, bildeten sich lange Schlangen von deutschen, russischen und skandinavischen Touristen, die es gar nicht abwarten konnten, ihrem Magen vor der zu erwartenden Seekrankheit noch etwas anzubieten.
»Lass uns später noch mal wiederkommen«, sagte Anna leise, »das ist mir jetzt zu blöd hier.«
»Später ist alles leer gefressen.«
»Dann isst du eben allein etwas. Ich würde mich gerne ein paar Stunden hinlegen.«
Anna sah plötzlich müde und deprimiert aus. Ihre gute Laune hatte offenbar nur so lange angehalten, bis sie absolut sicher war, kein Flugzeug besteigen zu müssen. Unter ihren Augen hatten sich dunkle Schatten gebildet, und sie war in den letzten Tagen noch dünner geworden. Vor unserer Abreise hatte ich ihr von meinem Gespräch mit Professor Bärwald erzählt, und sie hatte sehr gefasst reagiert, aber die Anspannung und Trauer der letzen Woche hatten deutliche Spuren hinterlassen. Jetzt sah sie so aus, als ob einem psychischen Kollaps nicht mehr allzu viel im Wege stand.
»Ich nehme die untere Koje«, sagte sie, »und mach keinen Krach, wenn du die Leiter hochsteigst.«
Sie drehte sich einfach um und ließ mich stehen. Ich sah sie in einem Pulk von angetrunkenen Schweden verschwinden und überlegte, wie lange ich wohl noch durchhalten würde. Die Schlange vor den Buffetvitrinen war immer noch beträchtlich. Also kämpfte ich mich zur Bar durch und ließ mich dann mit einem Becher Kaffee und einem ansehnlichen Cognac auf einem der Pullmansitze im Zwischendeck nieder.
Das gedämpfte Dröhnen der Schiffsmotoren, das Stimmengewirr um mich herum und die sich ausbreitende Partylaune der Passagiere – all das versetzte mich in einen angenehm schläfrigen Zustand. Überraschenderweise ging mir diese Schiffsreise nicht so auf die Nerven, wie ich angenommen hatte. Und für das, was wir vorhatten, kam es auf einen Tag mehr oder weniger nicht an. Was genau habt ihr denn vor?, fragte Helens Stimme in meinem Kopf. Sie hatte lange nichts von sich hören lassen. Sofort sah ich ihr Gesicht vor mir. Blonde, kurz geschnittene Haare, die wunderbar mit ihren braunen Augen kontrastierten. Die zarte Linie ihres Halses. Ebenmäßige Gesichtszüge, die nichts von der coolen Distanz
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