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Oelspur

Titel: Oelspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Erler
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doch seine Sprache, aber das war sehr unwahrscheinlich. Ich war noch nie in Mittelerde gewesen. Na und? In Flandern ja auch nicht. Wieso Flandern?
    »Verdammte Scheiße«, sagte der Gnom jetzt sehr deutlich mit vor Wut zitternder Stimme.
    Ich war so überrascht davon, ihn zu verstehen, dass es mir beinahe gelungen wäre, die Augen zu öffnen. Aber nur beinahe. Der Versuch, die Augenlider anzuheben, entzündete in meinem Kopf einen hellen Schmerz, der kleine bengalische Feuer auf meiner Netzhaut tanzen ließ. Der Gnom war jetzt still, aber nach wie vor registrierte ich seine verbissene Geschäftigkeit. Er rieb und raschelte und säbelte, und ich wünschte mir, seine Stimme noch einmal zu hören. Ihr Klang hatte mir auf merkwürdige Weise gutgetan, nicht trotz, sondern wegen des herzhaften Fluches. Ich gab meinen Augen eine zweite Chance, und diesmal funktionierte es. Es tat weh, aber die Lichtblitze blieben aus. Als ich die Lider einen Spalt weit öffnen konnte, sah ich eine nachtblaue Dunkelheit, die nach einiger Zeit langsam heller wurde. Ich war durchnässt, eiskalt und bewegungsunfähig. Aber ich war nicht tot, sondern lag auf dem Rücken unter freiem Himmel. Dessen wolkenloses Dunkel hatte sich in ein fahles Dämmerlicht verwandelt, und als ich jetzt links von mir die Stimme wieder hörte, erkannte ich sie.
    Wir waren beide am Leben. Die jähe Erkenntnis dieser ebenso schlichten wie ungeheuerlichen Tatsache versetzte meinem Verstand einen elektrisierenden Impuls, der diesmal nicht wehtat.
    »So – ein – ver – damm – tes – Scheiß – messer! Wie kann man so was mit sich herumtragen?«, giftete die Stimme neben mir.
    Ich habe es schon sehr lange, dachte ich.
    Es war eine brasilianische Cool-Jazz-Stimme. Eine Zwei-Frauen-Stimme. Eine wunderbare Stimme. Nur eben wütend.
    Dreh den Kopf! Du musst deinen Kopf drehen!
    Dieselbe Stimme, die eben noch neben mir gewesen war, schien jetzt direkt in meinem Kopf zu sein. Ich drehte ihn nach links.
    Anna saß etwa einen Meter von mir entfernt auf dem Boden. Sie hatte die Beine angewinkelt und schien mit aneinandergedrückten Fäusten rhythmisch auf ihre Knie zu schlagen. Nach scheinbar endlosen Minuten, die ich ihr zusah, begriff ich, was sie da tat. Sie hatte mein Klappmesser zwischen ihre angezogenen Knie geklemmt und bewegte die Kabelbinder, mit denen ihre Handgelenke gefesselt waren, an der Klinge auf und ab. Ich wollte sie auf mich aufmerksam machen und gleichzeitig irgendwie anfeuern, aber ich brachte keinen Laut heraus. Plötzlich gab die Plastikfessel nach, und Anna stieß einen heiseren Triumphschrei aus, der auch meine Stimme reaktivierte. Es war nur ein Krächzen, aber endlich sah sie zu mir herüber. Der Ausdruck von Überraschung und wilder Freude auf ihrem Gesicht war unbeschreiblich belebend. Sie packte das Messer mit beiden Händen, durchtrennte die Fußfessel und kniete sich neben mich.
    »Großer Gott«, sagte sie, »ich habe gedacht, du wärst im Koma.«
    Ich wollte den Kopf schütteln, war aber im letzten Augenblick klug genug, es nicht zu tun.
    »Hoch!«, sagte ich stattdessen.
    Anna richtete meinen Oberkörper vorsichtig auf und strich dabei zärtlich über meinen kahlen Schädel.
    »Oh, Mann«, sagte sie, »wenn ich gewusst hätte, dass Bruce Willis kommt, hätte ich mich umgezogen.«
    Ich hätte gerne gelacht, aber ich war mir sicher, dass mein Kopf dabei platzen würde. Außerdem begann ich jetzt erbärmlich zu frieren.
    »Hol den Wagen«, sagte ich und bekam tatsächlich einen ganzen Satz heraus.
    Anna fischte aus meiner Hosentasche den Schlüssel für den Astra. Sie parkte ihn mit der Beifahrerseite direkt neben mir und öffnete die Tür. Es dauerte beinahe zehn Minuten, bis ich es mit ihrer Hilfe auf den Beifahrersitz geschafft hatte. Sie kurbelte die Rückenlehne nach hinten und brachte mich in eine halb liegende Position. Dann startete sie den Opel im Leerlauf und drehte die Heizung auf. Nach einiger Zeit wurde das Zittern weniger. Wir saßen beide einfach nur nebeneinander und genossen es, nicht tot zu sein. Die Frage war nur, warum.
    »Warum haben sie uns nicht getötet?«
    Anna schwieg. Draußen wurde es langsam hell, und ich ließ meinen Blick über den Platz vor dem Haus schweifen. Der Lexus und der Audi waren verschwunden, das Haus war dunkel. Die Haustür war geschlossen, und der Platz davor schien leer zu sein.
    »Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?«, fragte Anna nach einer Weile.
    »An den Mann mit dem Loch im

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