Oelspur
schnell bei ihm sein.
Dann öffnete er die Klappe des Kofferraums und drehte mir dabei den Rücken zu. Aus dem Inneren erklang ein dumpfes, ersticktes und wütendes Geräusch, das mit nichts auf der Welt Ähnlichkeit hatte, aber ich wusste, es war Anna. Keine Ahnung, wie er sich die Sache vorgestellt hatte. Vielleicht wollte er sie aus dem Kofferraum holen, sie mit der Pistole am Kopf ins Scheinwerferlicht stellen und mich herbeiflöten. Nur dass ich eben schon da war.
In dem Augenblick, als er sich vorbeugte, um das tretende und zuckende Fünfzig-Kilo-Bündel herauszuheben, sprintete ich los, und ich war wirklich schnell. Er hatte den Revolver in den Hosenbund gesteckt, um Anna mit beiden Armen aus dem Kofferraum heben zu können, was sich schwieriger gestaltete, als er wahrscheinlich gedacht hatte. Sie wehrte sich nicht nur, sondern machte auch trotz des Knebels ganz schön Lärm, was das Geräusch meiner Schritte überdeckte. Trotzdem muss er mich irgendwie gespürt haben. Er ließ Anna wie einen Mehlsack fallen, wirbelte herum und war mit der Hand schon fast an seiner Waffe. Aber ich war da und rammte die Läufe von Gunnars Flinte mit derartiger Wucht gegen seinen Hals, dass sein Kopf nach hinten flog. Mit schmerzverzerrtem Gesicht, aber äußerst vorsichtig, zog er die Hand zurück und legte beide Hände hinter seinen Kopf. Ich verstärkte den Druck der Flinte an seinem Hals, zog mit der linken Hand den riesigen Revolver aus seinem Hosenbund und schleuderte ihn seitlich in die Büsche. Er wog nicht ganz so viel wie eine Waschmaschine. Ich schaute zu Anna hinunter.
Sie lag mit angewinkelten Beinen in einer Art Embryostellung auf der Seite. Hände und Füße waren mit Kabelbindern gefesselt und der Mund mit Klebeband verschlossen. Außer der großen Schramme an der linken Schläfe, die ich schon auf dem Foto gesehen hatte, schien zumindest ihr Kopf unversehrt. Ihr Gesicht hatte einen verzweifelten, völlig verstörten Ausdruck. Ich holte mein Taschenmesser heraus, ließ es aufschnappen und wollte mich hinunterbeugen, um Annas Fesseln zu durchschneiden. Ich hatte nicht mehr viel Zeit, und ich hatte den Mann auf dem Feldweg nicht vergessen.
Aber es war zu spät.
Annas Augen waren weit geworden vor Schrecken. Mein Blick huschte zu dem Blondschopf links von mir. Sein Gesicht war nicht das eines Mannes mit einem Gewehr am Hals. Es war eine selbstzufriedene, höhnisch grinsende Fratze.
Großer Gott, sind Sie dumm, hörte ich Villani sagen.
Ich war dumm. Sie hatten gewusst, dass ich auftauchen würde, wenn sie Anna aus dem Kofferraum holten. Das war schon alles. Die ganze raffinierte Falle.
»Es gibt Menschen auf dieser Welt, die herumlaufen und verlangen, dass man sie tötet«, sagte Don Corleone.
Dann kam der Schlag.
Der Schmerz.
Und die Dunkelheit.
Vierunddreißig
M
ir war kalt, aber ich fror nicht. Ich wusste, wie es ist, wenn man friert. Man verspürt eine Gänsehaut, man zittert, reibt die Hände aneinander oder haucht hinein, man springt herum, um sich aufzuwärmen. Man tut etwas. Frieren ist das Signal für den menschlichen Körper, dass die Außentemperatur seine eigene in einem kritischen Ausmaß unterschreitet, und zugleich seine Reaktion darauf. Frieren ist etwas sehr Lebendiges.
Was ich fühlte, war die Auskühlung und tödliche Müdigkeit, die dem Erfrieren vorangehen. Und da war Nässe. Sie drang durch meine Kleidung, meine Haut, meine Kapillargefäße und bahnte der Kälte den Weg in den Körper. Ich wurde schwerer und begann zu sinken. Nicht schnell, sondern in extremer Zeitlupe, Millimeter für Millimeter glitt ich in die Tiefe. Die Nässe würde in meine Ohren dringen, meine Augen erreichen und schließlich mein Gesicht bedecken. Je tiefer ich sank, desto deutlicher hörte ich eine murmelnde Stimme. Der Ort, zu dem ich unterwegs war, war bewohnt. Es war eine leise, wütende Litanei unverständlicher Worte. In meinen dahintreibenden Gedanken erschien das Bild von Gollum, dem unentwegt lamentierenden, diebischen Gnom aus Herr der Ringe.
Das Sinken hatte aufgehört, offenbar hatte ich den Meeresgrund erreicht. Nur dass mein Gesicht nicht mit Wasser bedeckt war. Und der Gnom hier nichts zu suchen hatte. Wieder begann er leise zu fluchen und zu schimpfen in einer Sprache, die nur aus Zischlauten zu bestehen schien. Ich empfing seine Angst und Wut, ohne auch nur das Geringste zu verstehen.
Dann wieder, nach und nach, glaubte ich einige Vokale herauszuhören. Möglicherweise beherrschte ich
Weitere Kostenlose Bücher