Offenbarung
Seele der engen Spirale. Zwei Windungen unter ihm
rutschten dicke Finger über den Handlauf. Ob das sein Mann war?
Sehr wahrscheinlich.
Leise vor sich hin summend, öffnete Grelier das Schutzgitter
und betrat die Treppe. Er schlug das Gitter mit der Spitze seines
Krückstocks hinter sich zu und stieg hinab. Dabei blieb er auf
jeder Stufe so lange stehen, bis seine Schritte verklungen waren,
bevor er sich die nächste vornahm. Poch, poch, poch schlug sein Krückstock gegen das Geländer. Sein Opfer
sollte wissen, dass er kam und dass es keinen Fluchtweg mehr gab.
Grelier kannte jeden Winkel der Kathedrale, und so fand er sich auch
in den Tiefen des Maschinenraums gut zurecht. Er hatte alle anderen
Treppen mit dem Glockenturm-Schlüssel verschlossen. Nur
hier war noch ein Weg nach oben oder unten frei, und sobald er unten
angekommen war, würde er auch diese Lücke schließen.
Sein schwerer Medizinkoffer schlug genau im Takt mit dem Klappern des
Stocks gegen seinen Oberschenkel.
Unter ihm wurden die Maschinen lauter. Es gab keinen Winkel in der
Kathedrale, wo man ihr Knirschen und Mahlen nicht hören konnte,
sofern es keine anderen Geräusche gab. Doch weiter oben musste
sich der Lärm der Verbrennungs- und Antriebsmaschinen gegen die
Orgelmusik und den Gesang des Chors durchsetzen. Und das Gehirn
filterte das schwache Hintergrundgeräusch bald aus.
Hier war das anders. Grelier musste die Zähne
zusammenbeißen, um das schrille Winseln der Turbinen zu
ertragen. Er hörte das leise Klirren der massiven Kurbelstangen
und der Exzenter. Das Stampfen der Kolben, das Klicken, mit dem sich
die Ventile öffneten und schlossen. Das Klappern der Relais und
die leisen Stimmen der Techniker.
Mit klapperndem Krückstock und einsatzbereitem Medizinkoffer
ging er weiter.
Er erreichte die letzte Windung. Das Tor quietschte in den Angeln:
Der Riegel war nicht eingeschnappt. Da hatte es wohl jemand ziemlich
eilig gehabt. Er schritt hindurch, hielt an und nahm den
Medizinkoffer zwischen die Beine. Dann zog er den Schlüssel aus
der Brusttasche und verschloss das Tor. Nun konnte auch von hier aus
niemand mehr nach oben. Er hob den Koffer wieder auf und ging
gemächlich weiter.
Grelier blickte sich um. Der Flüchtling war nirgendwo zu
sehen; es gab hier viele Verstecke. Das kümmerte ihn nicht
weiter: Früher oder später würde er den Mann mit den
dicken Fingern schon finden. Er konnte sich Zeit lassen, um sich
umzusehen. Für ihn war der Besuch eine willkommene Abwechslung.
Er kam nicht oft hier herunter, und der Raum beeindruckte ihn immer
wieder.
Der Maschinenraum belegte das unterste der belüfteten
Stockwerke fast völlig. Er war mit seinen zweihundert Metern so
lang wie die ganze fahrende Kathedrale. Seine Breite betrug hundert
Meter, und bis an den Scheitelpunkt des prächtigen
Deckengewölbes war er fünfzig Meter hoch. Abgesehen von
einer Lücke an den Wänden und einer zweiten ein Dutzend
Meter unterhalb der Decke war alles angefüllt mit riesigen
Maschinen. Die Kolosse waren nicht so abstrakt und monumental wie die
Triebwerke eines Raumschiffs, aber gerade durch ihre vermeintliche
Vertrautheit fühlte man sich leicht von ihnen bedroht.
Raumschifftriebwerke waren gefühllose Ungetüme, die einen
Menschen gar nicht wahrnahmen. Wenn er ihnen in die Quere kam, wurde
er binnen eines Lidschlags schmerzlos vernichtet und hörte auf
zu existieren. Die Maschinen hier waren dagegen trotz ihrer
Größe klein genug, um einen Menschen zu bemerken, und wer
ihnen im Weg stand, musste damit rechnen, verkrüppelt oder
zerquetscht zu werden.
Und dieser Tod wäre weder schnell noch schmerzlos.
Grelier hielt seinen Krückstock an das hellgrüne
Gehäuse einer Turbine und spürte das kraftvolle Pulsieren
der gefangenen Energien. Im Geiste sah er, angetrieben vom
Heißdampf aus dem Atomreaktor, die Schaufeln rotieren. Die
kleinste Schwachstelle in einer dieser Schaufeln würde
genügen, um die Turbine explodieren zu lassen. Den
Trümmerbeschuss konnte im Umkreis von fünfzig Metern nichts
überleben. Solche Katastrophen ereigneten sich dann und wann;
hinterher kam er meist herunter, um die Bescherung zu beseitigen. Das
waren immer spannende Momente.
Der größte Brocken war der Reaktor – das
Atomkraftwerk der Kathedrale, eine flaschengrüne Kuppel am
hinteren Ende des Raumes. Er funktionierte, und er war billig, das
war das Positivste, was man über ihn sagen konnte. Auf Hela
selbst gab es keine natürlichen Vorkommen von
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