Offenbarung
nicht mehr.«
Sie wollte ihn loswerden. Das hatte nichts mit ihm zu tun, sie
wollte nur allein sein und zusehen, wie die Brücke langsam
näher kam. Sie wollte ihre Gedanken ordnen, bevor die
Überquerung begann, und sich im Geiste das schwierige
Gelände vergegenwärtigen, das vor ihnen lag. Sie wollte
sich nicht durch belanglose Gespräche ablenken lassen, schon gar
nicht mit jemandem, der behauptete, ein Observator zu sein.
»Wie soll ich das verstehen?«, fragte sie. »Sind
Sie nun Observator oder nicht?«
»Ich war es, und jetzt bin ich es nicht mehr.«
Jetzt tat er ihr fast ein wenig Leid. »Wegen der Geschichte
auf dem Dach?«
»Nein. Das hat meinen Glauben nicht unbedingt gefestigt, aber
Zweifel hatte ich schon vorher.«
»Ach so.« Dann brauchte sie kein schlechtes Gewissen zu
haben.
»Ich kann allerdings nicht leugnen, dass du eine gewisse
Rolle dabei gespielt hast.«
»Wieso?«
»Ich hatte dich schon bemerkt, als du beim ersten Mal oben
warst. Ich lag mit den anderen auf der Beobachtungsplattform. Wir
sollten nur auf Haldora schauen und uns durch nichts ablenken lassen.
Man könnte es uns einfacher machen, indem man uns das Blickfeld
einschränkte und unsere Augen zwänge, sich unverwandt auf
den Planeten zu richten, aber so wird das nicht gehandhabt. Man
fordert eine gewisse Disziplin und Selbstbeherrschung. In den Helmen
sind Geräte eingebaut, die überwachen, wie gut es uns
gelingt, uns zu konzentrieren. Sie zeichnen jedes Augenzucken auf.
Doch dann habe ich dich gesehen. Zunächst nur aus dem
Augenwinkel. Mein Auge richtete sich unwillkürlich auf dich, und
dadurch verlor ich für einen Sekundenbruchteil den Kontakt zu
Haldora.«
»Wie schrecklich«, sagte sie.
»Schrecklicher, als du denkst. Allein für diesen
Verstoß wäre eine Disziplinarmaßnahme fällig
gewesen. Wobei die Sünde nicht so sehr darin bestand, dass ich
mich ablenken ließ, sondern dass ich einem wachsameren Menschen
den Platz weggenommen hatte. Auch wenn die Chance gering war –
Haldora hätte gerade in diesem Augenblick verschwinden
können. Und dann wäre einem anderen verwehrt worden, das
Wunder zu erleben, während ich schwach genug war, den Blick
abzuwenden.«
»Aber Haldora ist nicht verschwunden. Sie sind aus dem
Schneider.«
»So sieht man das hier nicht, das kannst du mir
glauben.« Er schlug wie schuldbewusst die Augen nieder.
»Die Frage ist ohnehin akademisch: Ich habe nämlich alles
noch sehr viel schlimmer gemacht. Ich habe nicht einmal dann zu
Haldora zurückgeschaut, als mir bewusst wurde, dass ich den
Kontakt verloren hatte. Ich habe nur dich beobachtet, und mich
bemüht, dir mit den Augen zu folgen, weil ich nicht wagte,
meinen Kopf oder meinen Körper zu drehen. Dein Gesicht konnte
ich nicht sehen, aber an deinen Bewegungen konnte ich erkennen, dass
du eine Frau warst, und das setzte allem die Krone auf. Jetzt war es
nicht mehr nur müßige Neugier. Was mich fesselte, war
nicht einfach eine Besonderheit in der Landschaft.«
Bei dem Wort ›Frau‹ durchlief sie ein Schauer. Sie
konnte nur hoffen, dass er es ihr nicht anmerkte. Wann wäre sie
jemals als Frau bezeichnet worden, ohne das Wort ›junge‹
oder eine ähnliche Einschränkung davor?
Sie wurde rot. »Sie können aber doch nicht gewusst
haben, wer ich bin.«
»Nein«, sagte er, »jedenfalls nicht mit Sicherheit.
Aber bei deinem zweiten Besuch dachte ich mir: Das muss jemand sein,
der sehr eigenwillig und zielstrebig ist. Du warst die Einzige, die
jemals auf das Dach gekommen ist, solange ich oben war. Und dann, bei
deinem Beinahe-Unfall – nun ja, da sah ich zum ersten Mal dein
Gesicht. Nicht sehr deutlich, aber doch so, dass ich sicher war, dich
wieder zu erkennen.« Er hielt inne und schaute für einen
Moment selbst aus dem Fenster. »Ich war immer noch
schüchtern«, sagte er, »auch als ich dich hier
entdeckte. Doch dann sah ich die Blitze und dachte mir, die Chance
musst du nützen. Ich bin froh, dass ich dich angesprochen habe.
Du bist ein nettes Mädchen, und du hast praktisch zugegeben,
dass du es warst, der ich oben auf dem Dach geholfen habe. Willst du
mir nicht deinen Namen sagen?«
»Nur, wenn Sie mir den Ihren verraten.«
»Pietr«, sagte er. »Pietr Vale. Ich komme aus Skull
Cliff im Tiefland von Hyrrokkin.«
»Rachmika Els«, sagte sie vorsichtig. »Aus High
Scree im Ödland von Vigrid.«
»Ich dachte mir doch, dass ich den Akzent kenne. Ich bin
eigentlich kein richtiger Ödländer, aber unsere Dörfer
liegen nicht so
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