Offenbarung
noch
bestärkt.
Rachmika wusste, dass sie keine Zeit zu verlieren hatte, dennoch
konnte sie es nicht lassen, das Buch kurz durchzublättern. Das
Rascheln der Seiten klang hart durch die Stille. Wenn sie es, was
selten vorkam, ganz neu und wie durch fremde Augen sah, fand sie es
wunderschön. Am Anfang waren die Buchstaben noch groß und
sauber, die Schrift eines Kindes. Sie hatte verschiedenfarbige Stifte
verwendet und vieles sorgfältig unterstrichen. Da und dort war
die Tinte verblasst oder verlaufen, und manchmal hatten ihre Finger
auch Flecken auf dem Papier hinterlassen, aber gerade diese
Altersspuren und die kleinen Schäden verliehen dem Buch den
Charme eines mittelalterlichen Fundes. Sie hatte auch Zeichnungen
angefertigt, Kopien aus anderen Quellen. Anfangs waren die Figuren
noch kindlich primitiv, doch schon nach wenigen Seiten zeigten sie,
penibel schraffiert und ringsum mit Anmerkungen versehen, die
Präzision und den sicheren Strich von Naturskizzen aus
viktorianischer Zeit. In erster Linie waren es natürlich
Zeichnungen von Flitzerfossilien mit Angaben zu Herkunft und
Funktion, aber sie hatte aus den Funden auch Körperbau und
Haltung rekonstruiert und danach Bilder von lebenden Flitzern
erstellt.
Beim Weiterblättern zogen Jahre ihres Lebens an ihr
vorüber. Die Schrift wurde kleiner und unleserlicher. Die
Buntstifte kamen seltener zum Einsatz, in den letzten Kapiteln waren
Text und Skizzen fast ausnahmslos in Schwarz gehalten. Die
Einträge waren nach wie vor sehr sauber, Texte und Zeichnungen
systematisch und sorgfältig ausgeführt, doch jetzt war es
nicht mehr das Werk eines begabten und fleißigen Kindes,
sondern die Arbeit eines Forschers. Anmerkungen und Zeichnungen
wurden nicht mehr ungeprüft aus anderen Quellen übernommen,
sondern waren eingebettet in eine eigenständige
Beweisführung, die sie entwickelt hatte, ohne sich von anderen
Meinungen beirren zu lassen. Für Rachmika machte der Unterschied
zwischen den ersten und den letzten Seiten geradezu erschreckend
deutlich, welch weiten Weg sie zurückgelegt hatte. Sie hatte
sich der Anfänge ihrer Arbeit oft so geschämt, dass sie das
Buch am liebsten weggeworfen und ein neues begonnen hätte. Aber
Papier war auf Hela teuer, und das Buch war ein Geschenk von Harbin
gewesen.
Sie strich über die leeren Seiten. Die Argumentation war noch
nicht abgeschlossen, aber man konnte bereits absehen, in welche
Richtung sie ging. Sie glaubte bereits die nächsten Worte, die
nächsten Zeichnungen zu erkennen. Noch waren sie undeutlich und
verschwommen, aber wenn sie genügend Zeit und Konzentration
darauf verwendete, würden sie schon scharf werden. Auf der
langen Reise, die sie antreten wollte, fände sich sicher oft
Gelegenheit, weiter an ihrem Buch zu arbeiten.
Aber sie konnte es nicht mitnehmen. Das Buch bedeutete ihr viel,
und wenn es verloren ginge oder gestohlen würde, wäre ihr
das unerträglich. Hier war es bis zu ihrer Rückkehr
zumindest gut aufgehoben. Unterwegs konnte sie sich ja Notizen
machen, um ihre Beweisführung zu verfeinern und sicherzustellen,
dass das Gebäude ohne grobe Fehler oder Schwächen
weiterwuchs. Das Buch konnte dabei nur gewinnen.
Rachmika klappte es zu und legte es beiseite.
Damit blieben noch zwei Dinge, ihr Notepad und ein abgegriffenes,
schmieriges Stofftier. Streng genommen war das Notepad nicht einmal
ihr Eigentum, sondern gehörte der Familie. Es war eine Leihgabe,
sie durfte es benutzen, solange es sonst niemand brauchte. Doch da
seit Monaten niemand danach gefragt hatte, würde man es auch
während ihrer Abwesenheit kaum vermissen. In seinem Speicher
befanden sich Aufzeichnungen aus anderen elektronischen Archiven, die
für ihre Flitzerstudien wichtig waren. Es enthielt viele selbst
aufgenommene Bilder und Filme von der Ausgrabungsstätte sowie
mündliche Aussagen von Bergleuten zu gewissen Funden, die der
gängigen Theorie zur Auslöschung der Flitzer widersprachen,
aber von den kirchlichen Behörden vertuscht worden waren. Dazu
Texte von älteren Forschern, Karten, linguistisches Material und
vieles andere, was sie gut gebrauchen könnte, wenn sie den Weg erreichte.
Sie griff nach dem weichen, zerschlissenen Stofftier. Das rosarote
Ding verströmte einen leicht stechenden Geruch. Es begleitete
sie, seit sie es sich mit acht oder neun Jahren am Stand eines
wandernden Spielzeugmachers selbst ausgesucht hatte. Damals war es
vermutlich hell und sauber gewesen, aber sie kannte es nur abgeliebt
und
Weitere Kostenlose Bücher