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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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Meer ist dir wichtiger, ja?«
    »Wer von uns kann schon sagen, was wirklich wichtig
ist?«
    »Mag sein. Mir selbst geht es weniger um das große
Ganze. Es war noch nie meine starke Seite.«
    »Im Moment, Scorp, ist das große Ganze alles, was wir
haben.«
    »Du denkst also an die Millionen – Milliarden – von
Menschen, die da draußen sterben werden? Obwohl wir sie nie
kennen gelernt haben, obwohl sie immer Lichtjahre von uns entfernt
waren?«
    »So könnte man es ausdrücken.«
    »Tut mir Leid, aber so funktioniert mein Verstand nicht. Eine
solche Bedrohung ist für mich nicht fassbar. Massenvernichtung
ist nicht mein Geschäft. Ich denke in sehr viel kleineren
Dimensionen. Und im Moment habe ich ein lokales Problem.«
    »Meinst du?«
    »Ich muss mich hier um einhundertsiebzigtausend Leute
kümmern. Das ist eine Zahl, die gerade noch in meinen Kopf
hineingeht. Und wenn plötzlich ohne Vorwarnung irgendwas vom
Himmel fällt, dann raubt mir das den Schlaf.«
    »Aber du hast es nicht wirklich vom Himmel fallen
sehen?« Clavain wartete Scorpios Antwort nicht ab. »Dabei
beobachten wir den Weltraum um Ararat mit allen verfügbaren
Passivsensoren. Wie konnte uns dann eine Rettungskapsel entgehen,
ganz zu schweigen von dem Schiff, das sie doch abgesetzt haben
muss?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Scorpio. Er konnte
nicht einschätzen, ob er sich damit um Kopf und Kragen redete,
oder ob es richtig war, Clavain in eine Diskussion über ein
konkretes Problem zu verwickeln, anstatt mit ihm über verlorene
Seelen und das Gespenst der Massenvernichtung zu streiten. »Was
immer es ist, es kann erst kürzlich heruntergekommen sein. Alle
Objekte, die wir bisher aus dem Ozean gezogen haben, waren halb
zerfressen, auch wenn sie auf dem Grund gelegen hatten, wo die
Organismendichte nicht so hoch ist. So wie das Ding aussah, war es
höchstens ein paar Tage im Wasser.«
    Clavain drehte sich um und entfernte sich vom Strand. Scorpio
hielt das für ein gutes Zeichen. Der alte Synthetiker bewegte
sich steif, aber er machte keinen Schritt zu viel und steuerte mit
schlafwandlerischer Sicherheit zwischen Pfützen und Hindernissen
hindurch, ohne jemals zu Boden zu schauen.
    Sie kehrten zum Zelt zurück.
    »Ich schaue oft in den Himmel, Scorp«, sagte Clavain.
»Vor allem bei Nacht, wenn er wolkenlos ist. In letzter Zeit
sehe ich immer wieder Blitze da oben. Schemenhafte Bewegungen.
Flüchtige Eindrücke eines großen Geschehens, als
würde für einen Moment ein Vorhang geöffnet. Jetzt
glaubst du sicher, ich bin nicht mehr ganz richtig im Kopf?«
    Scorpio wusste nicht, was er glauben sollte. »Wenn man ganz
allein hier draußen lebt, muss man ja anfangen, Gespenster zu
sehen.«
    »Vergangene Nacht war der Himmel klar«, fuhr Clavain
fort, »und die Nacht davor ebenfalls, und ich habe in beiden
Nächten den Himmel beobachtet. Aber ich habe nichts gesehen.
Jedenfalls keine Spur von Schiffen, die unseren Planeten
umkreisen.«
    »Uns ist auch nichts aufgefallen.«
    »Was ist mit Funkverkehr? Laserstrahlen?«
    »Kein Flackern. Du hast Recht: Es ist kaum zu glauben. Aber
die Kapsel ist da, ob es dir passt oder nicht, und sie wird auch da
bleiben. Und ich möchte, dass du mitkommst und sie dir selbst
ansiehst.«
    Clavain strich sich das Haar aus den Augen. Die tausend Runzeln
hatten sich zu Schluchten und Spalten vertieft. Sein Gesicht sah aus
wie eine zerklüftete Landschaft. Für Scorpio war er in den
sechs Monaten auf dieser Insel um zehn oder gar zwanzig Jahre
gealtert.
    »Du sagtest doch, in dieser Kapsel ist jemand?«
    Inzwischen war die Wolkendecke stellenweise aufgerissen, und
dahinter war der Himmel fahlblau und hart wie das Auge einer
Dohle.
    »Das ist noch geheim«, sagte Scorpio. »Bisher
wissen nur ein paar von uns, dass das Ding überhaupt gefunden
wurde. Deshalb bin ich mit dem Boot gekommen. Ein Shuttle wäre
bequemer gewesen, aber zu auffällig. Wenn die Leute erfahren,
dass wir dich zurückholen, denken sie gleich, wir hätten
eine Krise. Außerdem braucht niemand zu wissen, wie leicht es
ist, dich zurückzuholen. Offiziell bist du immer noch am anderen
Ende der Welt.«
    »Hast du auf dieser Lüge bestanden?«
    »Was findest du beunruhigender? Wenn die Menschen glauben, du
wärst auf einer – meinetwegen auch potenziell
gefährlichen – Expedition, oder wenn man ihnen sagt, du
hättest dich auf eine einsame Insel zurückgezogen und
trügest dich mit Selbstmordgedanken?«
    »Sie haben schon Schlimmeres erlebt. Sie hätten auch

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