Offenbarung
Wohnungen in ihrem Dorf befanden sich fast alle
unter der Erde. Die unregelmäßig geformten Höhlen mit
den gelblichen Gipswänden waren durch vielfach gewundene Tunnel
miteinander verbunden. Unter freiem Himmel zu leben, war eine
Vorstellung, die Rachmika fast beklemmend fand, aber vermutlich
konnte man sich mit der Zeit auch daran gewöhnen.
Schließlich lebten auch in den mobilen Karawanen Menschen, ja
sogar in den Kathedralen, denen die Karawanen folgten. Und das Leben
unter der Erde war nicht ohne Risiko. Das Tunnelnetz des Dorfes war
indirekt mit den viel tiefer liegenden Höhlen und Gängen
der Ausgrabungsstätte verbunden. Angeblich war das Dorf durch
luftdichte Türen und andere Sicherheitsvorrichtungen
geschützt, falls eine der Höhlen an der Grabungsstätte
einstürzte oder die Bergleute eine unter hohem Druck stehende
Blase anbohrten, aber die Systeme arbeiteten nicht immer ganz
zuverlässig. Rachmika selbst hatte noch keinen schweren Unfall
bei den Ausgrabungen erlebt, obwohl manchmal nicht viel gefehlt
hatte, aber jedermann wusste, dass ein Unglück wie das letzte,
von dem ihre Eltern immer noch redeten, nur eine Frage der Zeit war.
Erst vor einer Woche hatte es eine Explosion an der Oberfläche
gegeben. Niemand war verletzt worden, man munkelte sogar, jemand
hätte die Sprengladungen absichtlich hochgejagt, aber es war
eine Warnung. Der nächste Unfall konnte die große
Katastrophe sein.
Vermutlich war das der Preis für die wirtschaftliche
Unabhängigkeit der Ödlanddörfer von den Kathedralen.
Die meisten Siedlungen auf Hela lagen zu beiden Seiten des Ewigen
Weges und nicht hunderte von Kilometern nördlich oder
südlich davon. Diese Siedlungen verdankten ihre Existenz mit
ganz wenigen Ausnahmen den Kathedralen beziehungsweise den Kirchen,
von denen diese regiert wurden, und bekannten sich mehr oder weniger
streng zu einer der großen quaichistischen Konfessionen. Das
bedeutete zwar nicht, dass im Ödland nur Ungläubige lebten,
aber die Dörfer wurden von zivilen Kommissionen verwaltet und
waren nicht eingebunden in das komplizierte System von Kirchensteuern
und Ablasshandel, das die Kathedralen und die Gemeinden des Weges miteinander verband, sondern verdienten sich ihren
Lebensunterhalt mit Ausgrabungen. Infolgedessen brauchten sie sich
auch um viele der religiösen Vorschriften nicht zu kümmern,
die anderswo auf Hela galten. Sie machten sich ihre eigenen Gesetze,
waren bei der Erteilung von Heiratsgenehmigungen weniger streng und
drückten bei gewissen Perversitäten, die entlang des Weges streng verboten waren, beide Augen zu.
Besucher vom Glockenturm waren selten, und wenn die Kirchen
ihre Abgesandten schickten, wurden sie mit Misstrauen empfangen. Hier
durften sich junge Mädchen wie Rachmika mit der Fachliteratur
der Ausgrabungsstätte beschäftigen, anstatt die
quaichistischen Schriften zu studieren. Und es war nicht völlig
ausgeschlossen, dass eine Frau sich selbstständig Arbeit
suchte.
Andererseits mussten die Dörfer im Ödland von Vigrid auf
den Schutz der Kirchen verzichten. Die Siedlungen entlang des Weges wurden von einem losen Zusammenschluss der Milizen
verschiedener Kirchen bewacht und konnten sich in Krisenzeiten an die
Kathedralen um Hilfe wenden. Die Kathedralen verfügten über
medizinische Einrichtungen, die mit dem Angebot im Ödland nicht
zu vergleichen waren, und Rachmika hatte schon erlebt, wie Freunde
und Verwandte mangels angemessener Versorgung sterben mussten.
Natürlich gab es diese Versorgung nicht umsonst. Man musste sich
in die Hände des Blutzoll-Offiziums begeben. Und wer erst
einmal quaichistisches Blut in den Adern hatte, der war gegen nichts
mehr gefeit.
Rachmika akzeptierte diese Bedingungen mit dem verbissenen Stolz,
der alle Bewohner des Ödlandes auszeichnete. Gewiss mussten sie
Entbehrungen erdulden, wie man sie entlang des Weges nicht
kannte. Gewiss waren im Grunde nur wenige von ihnen aufrichtig fromm;
selbst wer zu einer Kirche gehörte, wurde von Zweifeln geplagt.
In den meisten Fällen hatten gerade diese Zweifel die Menschen
dazu getrieben, an den Ausgrabungsstätten nach Antworten auf die
Fragen zu suchen, die sie beschäftigten. Dennoch hätten die
Dörfler mit niemandem tauschen mögen. Sie konnten leben und
lieben, wie es ihnen gefiel, sie fühlten sich moralisch
überlegen und hatten für die kirchentreuen Gemeinden am
Rand des Weges nur Verachtung übrig.
Rachmika hatte den letzten Raum erreicht. Die schwere Tasche
schlug ihr
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