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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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Aura bereits durch den Mund ihrer Mutter mitgeteilt. Bei
dem Gedanken überlief es Scorpio eiskalt. Die von den Aliens
übernommene Technologie war noch immer nicht besser zu
kontrollieren als damals, als sich Clavain und Skade auf der langen
Verfolgungsjagd aus dem Raum um Yellowstone nach Resurgam ihren
Nervenkrieg geliefert hatten. Dabei waren aus jener Zeit nach wie vor
wahre Horrorgeschichten über technisches Versagen in Umlauf.
Wurde die Trägheitsunterdrückung an ihre Grenzen getrieben,
dann hatte das schlimme Folgen für Körper und Geist. Wenn
sie jetzt routinemäßig als militärisches Instrument
eingesetzt wurde – ein neues Sandkastenspielzeug –, dann
wollte er sich lieber nicht vorstellen, was man inzwischen als
gefährlich und fortschrittlich ansah.
    Er dachte kurz an Antoinette. Hoffentlich war sie mit dem Captain
irgendwie weitergekommen. Scorpio hielt es für eher
unwahrscheinlich, dass er sich umstimmen ließe, wenn sein
Entschluss bereits gefasst war. Aber noch stand nicht völlig
fest, ob er tatsächlich starten wollte oder nicht. Vielleicht
wollte er sich mit dem Hochfahren der Synthetikertriebwerke nur
vergewissern, dass sie noch funktionierten und irgendwann eingesetzt
werden konnten. Es musste noch nicht bedeuten, dass das Schiff in den
nächsten paar Stunden abheben wollte.
    Diese Art von Optimismus oder Wunschdenken lag Scorpio auch jetzt
noch fern. Damals in Chasm City wäre sie ihm völlig
unbekannt gewesen. Im Grunde seines Herzens war er Pessimist.
Vielleicht war er deshalb nie ein guter Planer gewesen. Er konnte
nicht mehr als ein paar Tage vorausdenken. Wenn man im tiefsten
Herzen überzeugt war, dass alles immer nur noch schlimmer wurde,
verlor jede Intervention ohnehin ihren Sinn. Dann konnte man nur noch
versuchen, aus der jeweiligen Situation das Beste zu machen.
    Doch nun hoffte er – obwohl so vieles dagegen sprach –,
dass das Schiff auf Ararat bleiben würde. Und wenn er anfing, so
zu denken, musste etwas schief gelaufen sein. Irgendetwas lag ihm auf
der Seele, und er wusste auch ziemlich genau, was es war.
    Erst vor wenigen Stunden hatte er nach dreiundzwanzig Jahren
erstmals eine selbst auferlegte Regel durchbrochen. Solange Clavain
zugegen war, hatte er alles getan, um dem alten Mann nachzueifern.
Jahrelang hatte er die Standardmenschen gehasst, weil er als
Kontraktsklave unter ihnen gelitten hatte. Und wenn seine Feindschaft
zu erlahmen drohte, dann brauchte er sich nur vor Augen zu halten,
was er war: eine Witzfigur, ein Mischwesen aus Mensch und Schwein,
ein fauler Kompromiss, der die Mängel beider Spezies in sich
vereinte, ohne auch etwas von den Vorzügen mitbekommen zu haben.
Er kannte die Litanei seiner Schwächen nur zu gut. Er konnte
nicht so gut gehen wie ein Mensch. Er konnte Dinge nicht so gut
festhalten. Er konnte nicht so gut sehen und hören. Manche
Farben würde er niemals kennen lernen. Er konnte nicht so
flüssig denken, und die Fähigkeit der abstrakten
Visualisierung war bei ihm nur ungenügend entwickelt. Musik
rezipierte er völlig emotionslos als komplexe Aneinanderreihung
von Tönen. Seine Lebenserwartung betrug, optimistisch
geschätzt, etwa zwei Drittel dessen, womit ein Mensch ohne
Langlebigkeitstherapien oder Keimbahnmodifikationen rechnen konnte.
Und – so behaupteten einige Menschen, wenn sie sich außer
Hörweite von Hyperschweinen wähnten – seine Spezies schmecke nicht einmal so, wie die Natur es vorgesehen
hätte.
    Das tat weh. Das tat verdammt weh.
    Aber er hatte die leise Hoffnung gehegt, er hätte diesen
Groll überwunden. Und wenn schon nicht überwunden, so doch
zumindest in einem kleinen Fach seines Bewusstseins weggeschlossen,
das nur in Krisenzeiten geöffnet wurde.
    So hielt er den Groll unter Kontrolle und nützte ihn nur, um
daraus Kraft und Willensstärke zu schöpfen. Der Vorteil
war, dass seine Verbitterung ihn stets gezwungen hatte, besser zu
sein, als die Menschen erwarteten. Er hatte aus den Tiefen seiner
Persönlichkeit Führungseigenschaften und Verständnis
für andere zutage gefördert, Eigenschaften, von denen er
früher nichts geahnt hatte. Er wollte ihnen zeigen, wozu ein
Schwein fähig war. Er wollte beweisen, dass ein Schwein ebenso
staatsmännisch handeln konnte wie Clavain; dass es ebenso
vorausschauend und kritisch sein konnte, so grausam oder so
gütig, je nachdem, wie es die Umstände erforderten.
    Das hatte dreiundzwanzig Jahre lang funktioniert. Der Groll hatte
ihn besser gemacht. Doch jetzt

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