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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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von ihm verlangen
konnte.
    Sonst hatte sich die Morwenna nicht sehr verändert.
Die unteren Stockwerke waren luftleer. Das hatte er festgestellt, als
er an dem Kabel emporkletterte, mit dem sich der Techniker aus dem
Maschinenraum abgeseilt hatte. Aber die großen Maschinen
konnten offenbar auch im Vakuum arbeiten: Die Kathedrale war ohne
Stocken weitermarschiert, und auch die Stromerzeugung funktionierte
noch. Oben im Turmzimmer des Glockenturms brannte weiterhin
Licht. Aber weder dort noch hinter den anderen hell erleuchteten
Fenstern des mobilen Bauwerks regte sich etwas.
    »Wie weit noch?«, fragte Scorpio.
    »Zweihundert Meter bis zur Kante«, sagte Vasko.
»Schätzungsweise.«
    »Fünfzehn Minuten«, sagte Rachmika. »Dann
hängt die vordere Hälfte im Nichts – falls der
Brückenrest so lange standhält.«
    »Ich denke schon«, sagte Scorpio. »Ich glaube, auch
die ganze Brücke hätte gehalten.«
    »Die Überfahrt wäre sehenswert gewesen«, sagte
Khouri.
    »Wir werden wohl nie erfahren, wer die Brücke gebaut
hat«, sagte Vasko. Neben ihm wurde einer der riesigen
Füße von der Maschinerie des Strebepfeilers in die Luft
gehoben, nach vorne bewegt und lautlos wieder auf das Eis
gesetzt.
    Scorpio dachte an die Holobotschaft, die sein Anzug empfangen
hatte. »Eines der Rätsel des Lebens«, sagte er.
»Die Flitzer waren es jedenfalls nicht. So viel ist
sicher.«
    »Bestimmt nicht«, sagte Rachmika. »Nicht in einer
Million Jahren. Sie hätten niemals ein solches Kunstwerk
zustande gebracht.«
    »Noch ist es nicht zu spät«, sagte Vasko.
    Scorpio wandte sich ihm zu. Aus dem Helmvisier des Menschen sah
ihm sein verzerrtes Spiegelbild entgegen. »Nicht zu spät
wofür, mein Sohn?«
    »Um noch einmal zurückzugehen. Fünfzehn Minuten.
Dreizehn oder vierzehn, um auf der sicheren Seite zu sein. Ich
könnte das Turmzimmer noch erreichen.«
    »Wie wollen Sie diesen Panzer die Treppe
herunterzerren?«, fragte Khouri. »Er wird nicht in den
Fahrstuhl passen.«
    »Ich könnte das Fenster des Turmzimmers einschlagen. Zu
zweit müssten wir ihn hinauskippen können.«
    »Ich denke, Sie wollen ihn retten?«, sagte Scorpio.
    »Ein Sturz vom Turmzimmer auf das Eis wäre längst
nicht so schlimm wie von der Brücke auf den Boden der
Schlucht«, sagte Rachmika. »Er würde es wahrscheinlich
überstehen, wenn auch nicht ganz ohne Schäden.«
    »Zwölf Minuten, wenn man nichts riskieren will«,
sagte Khouri.
    »Ich könnte es noch schaffen«, sagte Vasko.
»Und was ist mit Ihnen, Scorp? Angenommen, es müsste
sein?«
    »Wahrscheinlich, aber dann brauchte ich mir für den Rest
meines Lebens nichts mehr vorzunehmen.«
    »Das war wohl ein Nein.«
    »Wir haben eine Entscheidung getroffen, Vasko. Und wo ich
herkomme, hält man an seinen Entscheidungen fest.«
    Vasko legte den Kopf in den Nacken und schaute zur Turmspitze der Morwenna hinauf. Scorpio tat es ihm nach, obwohl ihm dabei
schwindlig wurde. Vor den Fixsternen an Helas Himmel war die Bewegung
der Kathedrale kaum wahrzunehmen. Aber nicht die Fixsterne waren das
Problem, sondern die zwanzig hellen neuen Sterne, die sich in
unregelmäßigen Abständen um den Planeten zogen. Sie
konnten nicht ewig dort oben bleiben, dachte Scorpio.
    Der Captain hatte richtig gehandelt, als er seine Schläfer
abwarf, um sie vor einem ungewissen Schicksal in der Haltebucht zu
bewahren, auch wenn er damit sozusagen Selbstmord begangen hatte.
Aber früher oder später musste sich irgendjemand dieser
achtzehntausend schlafenden Seelen annehmen.
    Aber nicht ich, dachte Scorpio. Das sollte jemand anderer
tun. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich es so weit schaffen
würde«, flüsterte er.
    »Scorp?«, fragte Khouri.
    »Nichts.« Er schüttelte den Kopf. »Ich frage
mich nur, was, zum Teufel, ein fünfzig Jahre altes Schwein dazu
treibt, sich so weit von seiner Heimat zu entfernen.«
    »Du wolltest etwas bewirken«, sagte Khouri. »Und
das ist dir gelungen. Aber das wussten wir ja schon immer.«
    »Sie hat Recht«, sagte Rachmika. »Ich danke dir,
Scorpio. Du hast viel mehr getan, als du musstest. Das werde ich dir
nie vergessen.«
    Und ich werde nie die Schreie meines Freundes vergessen, als
ich ihn mit diesem Skalpell zerfleischte, dachte Scorpio.
    Aber er hatte keine Wahl gehabt. Clavain hatte ihm keinen Vorwurf
gemacht; er hatte ganz im Gegenteil alles getan, um ihm
Schuldgefühle zu ersparen. Der Mann hatte einem grausamen Tod
ins Auge gesehen, doch sein einziges Anliegen war gewesen, die
Gefühle

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