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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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man ihre Abwesenheit
registriert hatte. Sie wollte, dass man sie vermisste.
    Nachdem sie eingehender darüber nachgedacht hatte,
tröstete sie sich damit, dass ihre Eltern wohl einige Stunden
abwarten wollten. Schließlich war erst ein halber Tag
vergangen. Unter normalen Umständen wäre sie noch in der
Bibliothek gewesen. Vielleicht nahmen die Eltern einfach nur an, sie
hätte an diesem Morgen früher als sonst das Haus verlassen.
Vielleicht hatten sie ihre Nachricht übersehen und auch nicht
bemerkt, dass ihr Druckanzug nicht mehr im Spind hing.
    Doch auch nach sechzehn Stunden gab es noch keine Meldung.
    Sie war so unberechenbar in ihren Gewohnheiten, dass ihre Eltern
sich vielleicht zehn oder zwölf Stunden lang keine Gedanken um
ihre Abwesenheit gemacht hätten, aber nach sechzehn Stunden
konnten sie – selbst wenn sie wie durch ein Wunder alle noch so
offensichtlichen Anhaltspunkte übersehen hätten –
nicht mehr daran zweifeln, dass sie fort war. Und dann müssten
sie sich doch an die Behörden wenden?
    Rachmika überlegte. Die Behörden im Ödland waren
nicht gerade für ihre gnadenlose Tüchtigkeit bekannt. Man
könnte sich vorstellen, dass die Vermisstenmeldung zunächst
auf dem falschen Schreibtisch gelandet war. Dann käme sie bei
der notorischen Trägheit auf allen Ebenen der Bürokratie
womöglich erst am folgenden Tag ans Ziel. Oder die Behörden
waren zwar informiert, verzichteten aber aus irgendeinem Grund
zunächst darauf, die Meldung an den Nachrichtensender
weiterzugeben. Eine verlockende Erklärung, nur konnte sie sich
leider keinen Grund für eine solche Verzögerung
vorstellen.
    Andererseits könnte schon hinter der nächsten Ecke eine
Straßenblockade aufgebaut sein. Crozet befürchtete
offenbar nichts dergleichen. Er fuhr schnell und völlig
unbekümmert. Sein Eisjammer kannte die alten Eispisten so gut,
dass er sich offenbar mit ungefähren Richtungsangaben
begnügte.
    Kurz bevor Crozet gegen Abend des ersten Tages die Fahrt beenden
wollte, fanden sie noch einmal den Vigrid-Sender. Inzwischen war
Rachmika fast zwanzig Stunden unterwegs. Und es sah noch immer nicht
so aus, als würde sie jemand vermissen.
    Sie war so niedergeschlagen, als hätte sie ihr ganzes Leben
lang ihre Bedeutung selbst in der kleinen Welt des Ödlands von
Vigrid heillos überschätzt.
    Dann fiel ihr mit einiger Verspätung eine weitere
Möglichkeit ein, die so nahe liegend war, dass sie sofort daran
hätte denken müssen. Und sie war auch viel plausibler als
all die unwahrscheinlichen Szenarien, die sie bisher durchgespielt
hatte.
    Ihre Eltern wussten sehr wohl, dass sie fortgegangen war. Sie
wussten auch, wann und warum sie das Haus verlassen hatte. Sie war in
dem Brief, den sie ihnen geschrieben hatte, nicht näher auf ihre
Pläne eingegangen, aber ihre Eltern hatten sicherlich in groben
Zügen erraten, was sie vorhatte. Und dass sie auch nach dem
Skandal Verbindung zu Linxe gehalten hatte, war ihnen ebenfalls
bekannt.
    Nein. Sie wussten, was sie tat, und sie wussten, dass es um ihren
Bruder ging. Sie wussten, dass sie sich aus Liebe auf den Weg gemacht
hatte, und wenn nicht aus Liebe, dann um Rache zu nehmen. Und sie
hatten niemandem etwas davon erzählt, weil sie sich, ungeachtet
dessen, was sie all die Jahre über beteuert hatten, ungeachtet
aller Warnungen davor, sich mit den Kirchen einzulassen, insgeheim
wünschten, dass sie Erfolg hätte. Sie waren auf ihre
stille, verschwiegene Weise stolz auf ihre Entscheidung.
    Diese Erkenntnis überfiel sie mit einer Macht, wie es nur die
Wahrheit konnte.
    »Es ist alles in Ordnung«, sagte sie zu Crozet.
»Man wird mich in den Nachrichten nicht erwähnen.«
    Er zuckte die Achseln. »Wieso bist du dir da auf einmal so
sicher?«
    »Mir ist eben etwas klar geworden.«
    »Du siehst so aus, als müsstest du dich mal wieder
gründlich ausschlafen«, sagte Linxe. Sie hatte heiße
Schokolade gekocht: Rachmika trank sie mit Genuss. Es war sicher
nicht die beste Schokolade ihres Lebens, aber im Moment schmeckte sie
einfach unvergleichlich.
    »Ich habe vergangene Nacht kaum ein Auge zugetan«,
gestand sie. »Ich hatte ständig Angst, am Morgen nicht aus
dem Bett zu finden.«
    »Du warst großartig«, lobte Linxe. »Wenn du
zurückkommst, werden alle sehr stolz auf dich sein.«
    »Hoffentlich«, sagte Rachmika.
    »Aber eines muss ich dich noch fragen«, fuhr Linxe fort.
»Du brauchst nicht zu antworten, wenn du nicht willst. Geht es
dir nur wirklich um deinen Bruder, Rachmika?

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