Offene Rechnungen
bin jedenfalls hundemüde und mir bleiben nur wenige Stunden Schlaf«, machte Simon einen praktischen Vorschlag.
Nachdem sich die Aufregung gelegt hatte, meldete sich die Erschöpfung mit Macht zurück. Wenn er nicht bald ins Bett kam, würde er vermutlich mitten im Gespräch einschlafen. Von seiner Verfassung beim Dienst im Krankenhaus überhaupt nicht zu reden.
»Gute Idee, Simon. Wo treffen wir uns?«
Esther schaute fragend zu Juliane, die umgehend nickte.
»Gegenvorschlag. Warum treffen wir uns nicht hier? Falls niemand etwas dagegen hat, möchte ich mich eurer Mördersuche anschließen. Ralph war mein Freund und Ariane ist nach wie vor eine gute Freundin.«
Herbert Scholz meinte es genauso, wie er es sagte. Diese beiden Amateure riskierten sehr viel, um der Freundin zu helfen und da würde er bestimmt nicht tatenlos daneben stehen. Zudem verfügte er mit seinem Sicherheitsdienst über weit bessere Möglichkeiten, eigene Ermittlungen anzustellen. Auch, wenn der Kieler Hauptkommissar es nicht gutheißen würde.
Ein kurzer Blickwechsel reichte aus, damit die anderen drei zustimmend nickten. Simon konnte direkt nach Hause fahren, da Esther auf dem Heimweg die Psychologin in der Düppelstraße absetzen wollte. Als Juliane ihre Freundin noch auf ein Glas Prosecco einlud, lehnte Esther jedoch dankend ab.
»Danke, Jule. Mir reicht es für heute. Vermutlich muss ich mir auch noch einige Vorwürfe meiner Mutter anhören, bevor ich ins Bett gehen kann.«
Esther setzte ihre Freundin an der Straße ab, wartete bis Juliane sicher im Haus war und lenkte den Volvo dann endlich in Richtung Heimat.
*
Das Taxi mit ihrer Patientin rollte zurück auf die Düppelstraße und fuhr dann im Nieselregen davon, der sich bereits während des nächtlichen Abenteuers am Nord-Ostsee-Kanal eingestellt hatte.
Juliane Wagenknecht hatte Ariane vor zwei Minuten verabschiedet, die sich durch eine weitere Sitzung gequält hatte. Die zierliche Frau mit den großen Augen bekämpfte sich selbst. Jedenfalls formulierte Juliane es so, ohne sich um die korrekte Terminologie ihres Berufsstandes zu scheren. Viele Lehrer erreichten nach einigen Berufsjahren einen Punkt in ihrem Leben, wo jedes Quäntchen Enthusiasmus aufgebraucht war. Müde schleppten sie sich dann zu den Schulen und versuchten den Schülern, oft gegen deren Willen, den Lehrstoff zu vermitteln. Ariane hatte diesen Punkt nach Julianes Einschätzung vermutlich vier oder fünf Jahre vor der ersten Begegnung mit ihr bereits erreicht gehabt. Eine handgreifliche Attacke eines Schülers während eines Schulausfluges war schließlich der Auslöser für den völligen Zusammenbruch gewesen. Ariane sah sich außerstande jemals wieder eine Schule zu betreten oder gar einer Schulklasse gegenüberzustehen. Es folgte das übliche Verfahren, in dem ein Facharzt über die psychische Verfassung der Lehrerin zu entscheiden hatte. Ariane wurde als psychisch zu labil eingestuft und von Seiten der Beihilfestelle des Landes gewährte man der Lehrerin Psychotherapie. Mitten in dem ohnehin sehr zäh verlaufenden Prozess passierte der gewaltsame Tod ihres Mannes. Seitdem hatte sich das Verhalten der zierlichen Frau, zu der Juliane fast schon ein freundschaftliches Verhältnis aufgebaut hatte, nochmals stark verändert. Juliane fertigte sich Notizen zur heutigen Sitzung an, blieb ständig an bestimmten Formulierungen der Lehrerin hängen. Ariane ging sehr präzise mit der deutschen Sprache um, daher legte Juliane vielleicht hier und da ihre Bemerkungen zu sehr auf die Goldwaage.
»Es steuerte wohl auf diesen Abend zu«, lautete einer dieser Sätze, die Juliane nicht loslassen wollten.
Schon im Verlaufe der Sitzung hatte ihr Unterbewusstsein auf unterschwellige Strömungen reagiert. Im Grunde arbeiteten sie in der Therapie noch an den weit in der Vergangenheit angesiedelten Auslösern für den Zusammenbruch. Dass ihre Patienten an vielen schmerzhaften Punkten auswichen, gehörte für Juliane zur Normalität. Doch besonders seitdem Frank Reuter ihre Patientin auch als mögliche Verdächtige behandelte, baute Ariane neue Blockaden auf. Auch dies war im Grunde nachvollziehbar, aber hier setzte dann ungünstigerweise Julianes Hang zur Kriminalpsychologie ein.
»Gab es einen Grund, wieso du Ralph getötet haben könntest?«
Kaum hatte Juliane die Frage laut ausgesprochen, schwebte sie wie ein unheilvolles Omen im Raum. Sie durfte auf keinen Fall zulassen, dass ihre eigentliche Aufgabe mit den Mordermittlungen
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