Offene Rechnungen
kollidierte.
»Tut es in deinem Kopf doch schon lange«, legte Juliane sich selbst gegenüber ein ehrliches Zeugnis ab.
Grübelnd saß sie an ihrem Schreibtisch im Erdgeschoss der alten Villa in der Düppelstraße. Dort, wo sich früher der Unterrichtsraum der Fahrschule befunden hatte, war jetzt Julianes Behandlungszimmer. Eine Verbindungstür führte in das kleine Büro, wo sie jetzt am Schreibtisch saß und auf die vorbeifahrenden Autos schaute. Juliane trank etwas Wasser und dachte über diese unselige Entwicklung im Leben ihrer Patientin nach. Kurzentschlossen griff sie nach dem Telefon und drückte die Kurzwahlnummer von Esther Helmholtz. Die beiden Frauen verband schon seit Julianes Ankunft in der Kreisstadt eine enge Freundschaft. Vor beinahe fünf Jahren hatte Juliane sich dem Einfluss ihres dominanten Vaters entzogen, der in Schleswig die Psychiatrische Klinik leitete. Beim Stöbern in einem Möbelgeschäft in der Innenstadt war Juliane auf Esther gestoßen. Sie bewunderten gleichermaßen ein weinrotes Sofa und kamen damals ins Gespräch.
»Hallo, Esther. Juliane hier. Hast du einen Moment für mich?«
Obwohl ihre Freundin sofort einwilligte, spürte Juliane eine besondere Anspannung in ihrem Verhalten. Seitdem Frank Reuter die Ermittlungen leitete, fühlte Esther sich in ihre Zeit als Anfängerin zurückversetzt. Soviel wusste Juliane. War das aber allein der Grund für ihre Anspannung?
»Habt ihr Fortschritte bei den Ermittlungen gemacht? Ich weiß ja, dass du mir keine Auskünfte im Einzelnen geben darfst, Esther. Es geht mir nur um Ariane. Sie schien mir heute mehr als üblich mit den Umständen von Ralphs Tod beschäftigt zu sein. Gibt es dafür einen speziellen Grund?«
Juliane hoffte, ihr Anliegen vernünftig erklärt zu haben. Esther schwieg einen Moment, bevor sie sich vernehmlich räusperte.
»Ich kann dir nur sagen, dass wir es mit einem Geflecht von Lügen zu tun haben. Wie viel Ariane über den Hintergrund des Mordes weiß oder verschweigt, kann ich dir aber auch nicht sagen. Frank geht jedoch von einem Mehrwissen aus und nach den letzten Erfahrungen tendiere ich dazu, seinen Einschätzungen zu trauen. Das ist aber völlig vage und sollte dich nicht zu irgendwelchen falschen Rückschlüssen verführen. Verstanden, Juliane? Sprich bitte mit niemandem darüber.«
Juliane sagte es zu und beendete das Gespräch, da sie die Ungeduld von Esther spürte. Offenbar bescherte diese Mordermittlung ihrer Freundin jede Menge Stress. Es reizte Juliane sehr, mehr über dieses Geflecht von Lügen zu erfahren, von dem Esther gesprochen hatte. Juliane konzentrierte sich zunächst lieber wieder auf Ariane. Sollte sie wirklich mehr über den Mord an ihrem Mann wissen? Wenn Juliane schon nicht direkt mit den ermittelnden Kriminalbeamten über diese Möglichkeit diskutieren konnte, blieben ihr immer noch die eigenen Aufzeichnungen aus den verschiedenen Therapiesitzungen mit Ariane Wiese. Bis zum Eintreffen ihres nächsten Patienten, einem verhaltensauffälligen Teenager, reichte die Zeit für einige Recherchen. Juliane zog die alten Aufzeichnungen hervor und las sie mit neuer Aufmerksamkeit durch. Vielleicht konnte sie auf diesem Weg einen Anhaltspunkt entdecken. Ein vager Gedanke hatte sich in ihrem Hinterkopf breit gemacht. Viel zu oft hatte es schon Fälle von überforderten Polizisten gegeben, die ihre Hilflosigkeit in gewalttätigen Attacken gegen die eigene Familie abreagiert hatten.
*
Frank Reuter hatte erstaunlich gut geschlafen, was er auf die frische Luft beim Spaziergang am Nord-Ostsee-Kanal zurückführte. Beim reichhaltigen Frühstück im Hotel hatte er beschlossen, in Kiel wieder regelmäßig solche Spaziergänge an der Kiellinie vorzunehmen. Von seiner Wohnung am Adolfplatz bis zum Landestag war es nur ein Spaziergang von rund zwanzig Minuten. Selbst der Weg durch die Straßen dorthin war interessant, standen in der Beseler Allee doch schöne alte Villen.
»Moin«, grüßte er daher entspannt, als er Esther an ihrem Schreibtisch in der Inspektion antraf.
Die Oberkommissarin erwiderte seinen Gruß mit einem Lächeln und deutete auf eine vor ihr stehende Kaffeetasse.
»Ich wollte mir gerade einen frischen Kaffee gönnen. Soll ich Ihnen einen Becher mitbringen?«
Frank hatte zwar bereits zwei Tassen Kaffee zum Frühstück getrunken, aber er freute sich über diese Geste.
»Ja, gerne. Ich mache mich gleich an den Bericht zu den Ereignissen von gestern Abend. Dazu kann ich gut einen Kaffee
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