Ohne Chef ist auch keine Loesung
sollten sich mehr engagieren. Seine Mitarbeiter empfanden sich von Tag zu Tag als überflüssiger und taten (
aus ihrer Sicht
völlig zu Recht) bald gar nichts mehr.
Keiner der Beteiligten meinte es böse! Und doch war es für beide Seiten ein regelrechter Albtraum. Der Chef: völlig überlastet
und ratlos. Seine Mitarbeiter: überflüssig und zutiefst gekränkt.
Erst als beide Seiten diesen Teufelskreis erkannten und sich einmal gegenseitig in die Lage des jeweils anderen versetzten,
konnten sie sich langsam annähern und gemeinsam festlegen, wer in Zukunft welche Aufgaben mit welcher Intensität erledigen
würde.
Boss, rutsch mir doch den Buckel runter
Wie kann es zu solch wahrhaft fatalen Verstrickungen – die uns in vielen Unternehmen und in verschiedenen Varianten immer
und immer wieder begegnet sind – kommen? Auch hier helfen uns die Erkenntnisse aus der Arbeitspsychologie weiter.
|47| Die Mitarbeiter aus dem obigen Beispiel taten, um es auf den Punkt zu bringen, genau das Gegenteil dessen, was ihr Chef von
ihnen erwartete: Sie verweigerten die Beteiligung an Entscheidungen und die Verantwortungsübernahme. Dieses Verhalten bezeichnet
man als reaktant. Reaktanz ist eine komplexe Abwehrreaktion, ein Widerstand gegen äußere oder innere Einschränkungen. Sie
wird unter anderem durch psychischen Druck, zum Beispiel Drohung, ausgelöst oder dadurch, dass Freiheitsspielräume eingeschränkt
werden, zum Beispiel durch Verbote oder Zensur. Das reaktante Verhalten besteht dann darin, dass wir die unerwünschten oder
verbotenen Handlungen weiterhin oder sogar erst recht ausführen – auf diese Weise möchten wir nämlich unsere Freiheiten zurückerobern.
Die Reaktanz ähnelt somit dem Trotz, dem »Reiz des Verbotenen«. Im Extremfall haben wir übrigens von der Handlungsmöglichkeit
freiwillig nie Gebrauch gemacht,
bevor
die Beschränkung eingetreten ist – üben die Handlung aber seitdem aus. Verrückt!
Die Reaktanztheorie wurde bereits in den 1960er Jahren unter anderem von Jack Brehm geprägt. Ein witziges Beispiel finden
wir in dem berühmten Roman von Mark Twain: Tom Sawyer wird eines wunderschönen Sommertages von seiner Tante Polly dazu verdonnert,
den Gartenzaun zu tünchen. Als sein Freund Ben vorbeischlendert, bleibt der Spott natürlich nicht aus. Tom jedoch vertieft
sich enthusiastisch in seine Arbeit – wer wolle denn schon schwimmen gehen, wenn er die großartige Chance habe, einen Zaun
zu streichen? Ben wird neugierig: Ob er vielleicht nicht auch mal ein wenig pinseln dürfe? Tom ist skeptisch: Ob Ben das überhaupt
gut genug könne? Tante Polly sei sehr kritisch … Schließlich bietet Ben Tom sogar einen Apfel als Gegenleistung an, und Tom
hat seinem Freund eine Option der Freizeitgestaltung schmackhaft gemacht, auf die dieser im Traum |48| nicht verfallen wäre – wäre sie nicht so schwer erreichbar und damit höchst exklusiv gewesen.
Auch in der Kindererziehung haben wir häufig mit Reaktanzverhalten zu kämpfen: Sobald wir versuchen, Lena und dem kleinen
Lukas aus der Eingangsgeschichte weiszumachen, dass Gummibärchen nicht gut für ihren Magen sind, kommt es zu einer »Jetzt-will-ich-erst-recht-Gummibärchen-haben-Reaktion«…
Kommen wir vom Kinderzimmer zurück in den Kosmetikkonzern: Der Chef hatte ja aus Sicht seiner Leute ihre Beteiligungs- und
Entscheidungsmöglichkeiten eingeschränkt. Das Team versuchte gemäß Reaktanztheorie in einem ersten Schritt, Einflussnahmemöglichkeiten
einzufordern und zurückzuerlangen. Wie ist nun der zweite Schritt, der Rückzug der Mitarbeiter, zu erklären? Ihre Tendenz,
sich der Vorgesetztenerwartung »Übernehmt endlich Verantwortung!« zu widersetzen?
Eine Erklärung liefert die Theorie der kognitiven Dissonanz nach Leon Festinger: In ihr geht es um »gedanklichen Missklang«.
Die Dissonanztheorie besagt, dass miteinander unvereinbare Kognitionen – also Gedanken, Meinungen und Wünsche – einen inneren
Konflikt erzeugen. Typische Dissonanzen – also Missklänge – treten auf, wenn neue Gedanken der bisherigen Meinung widersprechen
oder neue Informationen eine bereits getroffene Entscheidung als falsch entlarven. Weil wir Menschen uns innere, gedankliche
Harmonie wünschen, missachten wir unangenehme Neuigkeiten oder entwickeln neue, angenehme Gedanken.
Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Wenn wir rauchen, dann sind wir uns dessen bewusst. Wir wissen auch, dass Rauchen der
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