Ohne dich kein Sommer - Roman
zur Veranda hoch und setzte sich auf den Stuhl neben mir. Er nahm mein Bier und trank einen großen Schluck. »Wie geht es Conrad?«, fragte er, während er die Dose auf seiner Armlehne abstellte.
»Gut«, sagte ich spontan. Sofort kam ich mir blöd vor. Natürlich ging es Conrad gar nicht gut. Er war vom College abgehauen, seine Mutter war vor Kurzem gestorben. Wie sollte es ihm da gut gehen? Wie sollte es irgendeinem von uns gut gehen? Aber in gewissem Sinne ging es ihm vielleicht doch gut, denn er hatte wieder eine Aufgabe. Er hatte einen Sinn gefunden. Einen Grund zu leben. Ein Ziel und einen Feind. Das war ein guter Ansporn. Selbst wenn es sich bei diesem Feind um den eigenen Vater handelte.
»Was denkt sich der Junge eigentlich?« Mr. Fisher schüttelte den Kopf.
Was sollte ich dazu sagen? Noch nie hatte ich gewusst, was Conrad dachte. Und ich war mir sicher, dass es den meisten Menschen ebenso ging. Trotzdem hatte ich das Bedürfnis, ihn zu verteidigen, zu schützen.
Schweigend saßen wir da, Mr. Fisher und ich. Aber es war kein entspanntes Schweigen unter Vertrauten, sondern einfach nur steif und schrecklich. Er hatte noch nie gewusst, worüber er mit mir reden könnte, und ich umgekehrt genauso wenig. Irgendwann räusperte er sich dann doch und fragte: »Was macht die Schule?«
»Ferien«, sagte ich. Ich kaute an meiner Unterlippe und fühlte mich wie eine Zwölfjährige. »Seit ein paar Tagen. Im Herbst komme ich in die Abschlussklasse.«
»Weißt du schon, auf welches College du gehen willst?«
»Nicht wirklich.« Falsche Antwort, das war mir sofort klar. Colleges waren ein Thema, über das Mr. Fisher gern redete. Aber es mussten natürlich die richtigen sein.
Also schwiegen wir weiter.
Auch das kannte ich gut. Dieses Gefühl von Angst, von drohendem Unheil. Das Gefühl, in Schwierigkeiten zu stecken. Ich. Wir alle.
24
Milchshakes. Mr. Fisher war ein großer Fan von Milchshakes. Wenn er im Sommer ins Ferienhaus kam, machte er uns andauernd welche. Dafür kaufte er Eis in Großpackungen – Schoko für Steven und Conrad, Erdbeer für Jeremiah, Schoko-Vanille für mich. Mr. Fishers Milchshakes waren sagenhaft cremig, viel besser als die von Wendy’s. Er hatte extra einen supertollen Mixer angeschafft, den wir Kinder auf gar keinen Fall benutzen durften. Das musste er nicht explizit sagen, das war uns ohnehin klar, und wir rührten das Ding auch nicht an. Bis Jeremiah eines Tages die Idee mit den Kool-Aid-Slurpees hatte.
In Cousins gab es keinen 7-Eleven-Laden und also auch keine Slurpees, und trotz gelegentlicher Milchshakes sehnten wir uns manchmal danach. Wenn es ganz besonders heiß war, sagte garantiert einer von uns: »Mann, jetzt ein Slurpee«, und von dem Moment an konnte keiner von uns mehr an etwas anderes denken. Und so kam, was kommen musste, als Jeremiah eines Tages die Idee hatte, Kool-Aid-Slurpees zu machen. Er war neun, und ich war acht, und in dem Moment schien es uns beiden die tollste Idee aller Zeiten zu sein.
Wir standen in der Küche und beäugten den Mixer hoch oben auf dem obersten Bord. Wir wussten, dass es ohne Mixer nicht ging, und wir waren auch ganz wild darauf, ihn auszuprobieren – doch andererseits war da dieses unausgesprochene Verbot.
Niemand war zu Hause außer uns beiden. Niemand müsste je davon erfahren.
»Welche Sorte willst du?«, fragte Jeremiah schließlich.
Damit war es entschieden. Es ging los. Bei der Vorstellung, dass wir gleich genau das tun würden, was uns immer verboten worden war, hatte ich einerseits Angst, andererseits juckte es mich schon in den Fingern. Es kam selten vor, dass ich gegen Regeln verstieß, aber diese schien mir dafür ganz geeignet.
»Kirsche«, sagte ich.
Jeremiah schaute in den Vorratsschrank, aber Kirsche gab’s nicht. »Und deine zweitliebste Sorte?«, fragte er.
»Traube.«
Jeremiah fand, Kool-Aid-Slurpee mit Traubengeschmack höre sich wirklich gut an, und je öfter er den Namen seiner Erfindung aussprach – Kool-Aid-Slurpee –, umso besser gefiel er mir.
Jeremiah holte einen Hocker, stellte sich darauf und nahm den Mixer vom obersten Bord. Dann kippte er das gesamte Brausepulver Traubengeschmack in den Mixaufsatz und dazu zwei große Plastikbecher Zucker. Ich durfte umrühren. Anschließend leerte er den halben Eiswürfelbehälter vom Kühlschrank in den Mixbecher, und als der bis zum Rand gefüllt war, schloss er den Deckel mit dem Schnappverschluss, so wie wir es Tausende Male bei Mr. Fisher gesehen
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