Ohne Gnade
Ein Mann im blauen Regenmantel, dessen dunkle Augen unter der Schirmmütze durch sie hindurchsahen.
Sie schauderte und trank hastig einen Schluck Gin.
»Ist das alles, was Sie mir sagen wollten?«
»Nein, ich wollte Ihnen mitteilen, daß Ben Sie nicht mehr belästigen wird.«
In ihren Augen flackerte etwas auf, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Sie warf den Kopf zurück.
»Tatsächlich? Na gut. Von mir können Sie ihm jedenfalls ausrichten, daß er sich meinetwegen zum Teufel scheren kann.«
»Er würde mich nicht hören«, sagte Nick ruhig. »Er liegt im Schlamm von Hagens Werft auf dem Rücken. Jemand hat ihm zwei Kugeln durch den Leib gejagt.«
Bis zu diesem Augenblick war das Ganze nur ein aus Regen, Nebel und Dunkelheit bestehender Alptraum gewesen, etwas, das man bei Tageslicht achselzuckend von sich abschüttelt, um es, wie jeden schlimmen Traum, so schnell wie möglich zu vergessen.
Aber jetzt sah sie ihn in einem entsetzlichen Augenblick klarer Sicht dort im Schlamm liegen, ein Lächeln um die Mundwinkel, und erst jetzt traf sie mit voller Wucht die Erkenntnis dessen, was geschehen war. Sie ließ das Glas fallen, streckte die Hand aus, wie um dieses Bewußtsein abzuwehren, drehte den Kopf hin und her, während sich ihr Gesicht verzerrte und die Übelkeit in ihr hochstieg, dann taumelte sie ins Badezimmer, eine Hand vor dem Mund.
Sie beugte sich mit zuckenden Schultern über das Becken. Nick stand an der Tür und beobachtete sie mit seltsamer Gelassenheit. Es war, als stünde sein anderes Ich neben ihm und verfolgte ruhig, was sich abspielte.
Er stand im Schatten des anderen Raums, beobachtete sich
und diese Frau und wußte mit unbeirrbarer Sicherheit, daß er am Rand eines Abgrunds stand, eines Abgrunds, der zugleich auch die Lösung des Rätsels in sich barg.
Er packte sie an den Schultern und riß sie herum.
»Warum ist Ben überhaupt zurückgekommen, Bella? Um das Geld zu holen nicht wahr? Das Geld, das Sie die ganzen Jahre hindurch für ihn aufbewahrt haben. Sein Anteil am Raubüberfall auf die Stahlfabrik?!«
Sie stieß ihn zurück und wankte ins andere Zimmer.
»Hinaus!« kreischte sie. »Hinaus! Verschwinden Sie!«
»Er war heute nacht hier, nicht wahr?«
»Nein, das ist nicht wahr! Ich habe Ben Garvald seit neun Jahren nicht mehr gesehen!«
Sie versuchte an ihm vorbeizulaufen, aber er bekam ihren Arm zu fassen und schleuderte sie aufs Bett. Sie blieb liegen und sah angstvoll zu ihm auf. Er beugte sich über sie.
»Er hat mir gesagt, daß er Sie nicht einmal mit einer Kohlenzange anrühren würde, und ich glaubte ihm. Weshalb wäre er sonst zu Ihnen gekommen? Es kann nur um das Geld gegangen sein.«
Er griff in seine Innentasche, zog seine Brieftasche und verschiedene Schriftstücke heraus, warf sie aufs Bett und suchte mit einer Hand, während er mit der anderen ihr Handgelenk festhielt.
Er fand den Brief, faltete ihn auseinander und hielt ihn ihr vor die Augen.
»Er schrieb Ihnen aus dem Gefängnis und warnte Sie, daß er kommen werde, nicht wahr? Da ist sein Brief.«
Ihr Gesicht verzerrte sich bis zur Unkenntlichkeit. Er ließ ihr Handgelenk los und starrte den Brief mit zusammengezogenen Brauen an. Und was sie sagte, ließ ihn erstarren. Es war, als habe er einen furchtbaren Schlag in die Magengrube bekommen.
Als sie hysterisch zu schluchzen begann, schlossen sich seine Hände um ihre Kehle und drückten ihren Kopf zurück.
»So, du Miststück, jetzt heraus mit der Wahrheit!«
24
Es war fast sechs Uhr, als Jean Fleming die Pforte öffnete und den Schulhof betrat. Im fahlen Licht der Morgendämmerung hatte sich der Nebel zurückgezogen, aber der Regen prasselte immer noch unerbittlich hernieder, in Abständen vom Wind vorangepeitscht.
Sie hastete unter das Vordach und suchte mit einer Hand nach dem Schlüssel, in der anderen einen Karton Milch, unter dem Arm die Zeitung. Endlich konnte sie die Tür aufschließen und eintreten. Sie blieb plötzlich stehen und lauschte stirnrunzelnd. Im Musikzimmer spielte jemand Klavier.
Nick war müde, erschöpfter, als er sich das je hatte vorstellen können. Die Nacht hatte kein Ende nehmen wollen, aber jetzt ging der Dienst der ›Friedhofsschicht‹ zu Ende. Als Jean die Tür öffnete, hob er den Kopf. Sie stellte die Milch auf einen Tisch, legte die Zeitung daneben, löste das feuchte Kopftuch und fuhr sich mit den Händen durch ihr dichtes schwarzes
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