Ohne jede Spur
gemeldet und waren so naiv gewesen zu glauben, damit ihrer Pflicht Genüge getan und dem Jungen geholfen zu haben.
Von wegen. Das Jugendamt entschied, dass es im besten Interesse des Jungen sei, bei seiner Familie zu bleiben. Allerdings flog er von der Vorschule, weil er sich einem Klassenkameraden unsittlich genähert hatte. Ansonsten änderte sich nichts, bis sechs Monate später D. D. erneut mit dem Jungen zu tun hatte, diesmal als Zeuge eines dreifachen Mordes, begangen von seinem älteren Bruder.
D. D. sah die leeren grauen Augen des Kindes immer noch vor sich, erinnerte sich an die Teilnahmslosigkeit, mit der dieser berichtet hatte, wie er mit seinem sechzehnjährigen Bruder in einem kleinen Laden gewesen war, um Süßigkeiten zu kaufen, wo sein Bruder aber stattdessen eine Pistole gezogen und den neunzehnjährigen Verkäufer erschossen hatte wie auch zwei andere Jungs, die zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren.
D. D. hatte die Aussage des Jungen zu Protokoll genommen und ihn nach Hause bringen lassen, zurück zu seinem vorbestraften Vater. Eine andere Entscheidung wäre nach geltendem Recht nicht möglich gewesen.
Die Sache lag nun schon Jahre zurück. Trotzdem war D. D. von Zeit zu Zeit versucht, Nachforschungen anzustellen, um zu erfahren, wie es dem Jungen inzwischen ging. Doch das konnte sie sich schenken. Einer, der schon mit fünf Jahren Opfer sexueller Gewalt, selbst Täter und schließlich Zeuge eines dreifachen Mordes war … tja, was sollte aus einem solchen Jungen werden? Der nächste Präsident der Vereinigten Staaten wohl kaum.
Natürlich gab es jede Menge andere, vergleichbare Geschichten. In einem völlig heruntergekommenen dreistöckigen Haus hatte sie einmal eine Frau vor der Leiche ihres Mannes vorgefunden, das Fleischmesser noch in der Hand für den Fall, er könnte wieder aufstehen, obwohl sie zwei Dutzend Mal auf ihn eingestochen hatte. Es stellte sich heraus, dass der Frau Videos in die Hände gefallen waren, die ihr Mann nachts gedreht hatte und ihn bei Sexspielen mit den beiden gemeinsamen Töchtern zeigten.
Die beiden hatten bereits Jahre zuvor – sie waren damals sieben und neun Jahre alt gewesen – die Übergriffe angezeigt, doch weil die Polizei keine Hinweise auf Missbrauch feststellen konnte, waren die Ermittlungen eingestellt worden. Im Alter von zwölf und vierzehn Jahren hatten sie sich ein zweites Mal zu einer Anzeige durchgerungen, doch weil sie gern Minis und enge Tops trugen, war nicht einmal die eigene Mutter bereit, ihnen zu glauben.
Erst die Videos hatten den Ausschlag gegeben. Die Mutter hatte ihren Mann abgeschlachtet und war nach ihrem Freispruch vor Gericht, erwirkt von einem Pflichtverteidiger, in tiefe Depression verfallen. Und was die beiden Mädchen betraf, die schon mit vier und sechs von ihrem Vater missbraucht worden waren, der die Aufnahmen seiner fortgesetzten Übergriffe auch noch ins Internet gestellt hatte … nun, auch diese beiden würden es wohl kaum bis ins Weiße Haus schaffen.
D. D. und Miller fuhren zu der von Colleen Pickler genannten Adresse Aidan Brewsters. D. D. übte vorsorglichtiefes Atmen und versuchte, sich zu entspannen. Die Bewährungshelferin hatte Behutsamkeit angemahnt.
«Die meisten Sexualstraftäter haben kein Rückgrat, kein Selbstbewusstsein. Deshalb halten sie sich an Kinder oder, wie im Fall des Neunzehnjährigen, an ein fünf Jahre jüngeres Mädchen», hatte sie erklärt. «Wenn Sie auf Aidan einstürzen wie eine Tonne Ziegelsteine, wird er sofort dichtmachen, und sie bekommen gar nichts aus ihm heraus. Ich rate Ihnen, Freundschaft mit ihm zu schließen. Fertigmachen können Sie ihn dann später immer noch.»
Doch Freundschaft war für D. D. nicht drin. Deshalb hatte sie sich mit Miller darauf geeinigt, dass er die Sache in die Hand nahm und sie sich im Hintergrund hielt. Er verließ als Erster den Wagen. Sie folgte ihm zu dem bescheidenen Haus aus den fünfziger Jahren. Miller klopfte. Niemand reagierte.
Etwas anderes war auch kaum zu erwarten gewesen. Sie hatten bereits erfahren, dass Sandra Jones ihren Wagen von der Werkstatt inspizieren ließ, in der Aidan Brewster arbeitete. Colleen Pickler hatte ihnen eine Stunde später telefonisch mitgeteilt, dass sie den Eigentümer der Werkstatt, Vito Marcello, informiert habe und dass dieser entschlossen sei, Aidan Brewster zu kündigen.
Aidan würde also aufgeschreckt sein und sich aus dem Staub zu machen
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