Okarina: Roman (German Edition)
der Genosse Winifred und fügte hinzu, die Titelfrage sei nicht die Hauptfrage. Die bestehe vielmehr in einer seltsam dürren Unsinnlichkeit des angestrebten Schauspiels. Er sehe nichts als Gedanken auf der Bühne, ein Nichts aus Gedanken. Wenig zu schauen und gar kein Spiel. Was not tue, sei ein Zuwachs an gesunder Sinnlichkeit. Damit meine er nichts Privates, Erotisches, Sexuelles, damit meine er die Epochenkraft. Er meine das schaubare Leben, wie Schiller es beispielhaft vorgeführt habe. Beispielsweise im Zusammenprall zwischen Geßler und Tell. Da treffe man auch auf Gedanken, aber Apfel und Armbrustseien immer mehr als nur Apfel und Armbrust. Im Stück von Gabriel Flair jedoch teile sich der Apfel bloß als Wort mit und die Armbrust bestenfalls als Gedanke. Um nicht zu sagen: als verständlicher Gedanke an einen Armbrustpfeil, den zwischen das dürre Gedankengewebe zu schießen man versucht sei. Als treuer Besucher des Neuzeittheaters und potentieller Zuschauer des neuen Stückes lechze er nach einem Zuwachs an gesunder Sinnlichkeit, obwohl er einräume, daß sich das Vorbild Schiller nicht jeden Tag erreichen lasse. Zumal sich frage, rief von der Tür her jemand, in dem ich nur deshalb nicht Jochen Bantzer aus Jüterbog erkannte, weil dieser längst ein Westbürger war, der bei parteigeleiteten Kunstaussprachen im Neuzeittheater von Ostberlin nichts zu suchen hatte – zumal sich frage, rief dieser Besucher, der untrüglich Jochen Bantzer hieß, wie ein Haus vom schmalen Zuschnitt des Neuzeittheaters mit der Rollenbesetzung zurechtkommen solle. Wenn er denke, daß er dabeigewesen sei, als Gustav Gründgens im Tell den Tell-Sohn gab und dabei schon den künftigen Mephisto durchschimmern ließ, fülle Mitgefühl sein Herz, und Hochachtung fühle es für den Autor, der mit dem ersten Textwort klarstelle, wie illusionslos er die Geworfenheit in eine nachschillersche und postgründgenssche Existenz bewerte. Sein Anderes stehe allem anderen voran und hülle das unmittelbar folgende Licht in ein geradezu schrilles Licht. Den Titel hätten wir bereits besprochen, sagte eine gesetzte Dame aus dem Gefolge des Genossen Winifred; derzeit stehe ein Zuwachs an gesunder Sinnlichkeit zur Diskussion. Ein Bedarf an Sartre-Vokabular liege indes kaum vor. Das habe er zu respektieren, sprach der Mann, der Gründgens unterm Geßler-Apfel gesehen hatte und nur Jochen Bantzer sein konnte, und wandte sich zur Tür. Unter uns wolle er klarstellen, sagte der Genosse Winifred, daß es nicht um Eingriffe von außen in das Innere des Stückes gehe, sondern um den Versuch, dessen dürrer Gedanklichkeit mit einer Essenz aus gesunder Sinnlichkeit zu begegnen. Das allzu gedankliche Stück solle etwas Fleisch ansetzen, das sei alles. Vielleicht könnte man einige Dialoge in einer werktätigen Atmosphäre sprechen, sprach er mit Blick auf den scheintotenGabriel Flair, beim Holzfällen oder unter Wäscherinnen auf der Bleichwiese vielleicht und alles nur beispielsweise. »Oder an einem dorschprallen Fischernetz«, sagte die Dame aus seinem Gefolge. »Oder«, rief ich, denn das dorschpralle Fischernetz war zu viel, »oder«, rief ich in einem jähen Schub von Schemelwahn, »oder vielleicht auf einem Eldekahn. Ins Stakholz gebeugt«, rief ich, und »Auf dem Weg zur Kaanbuugerie«, rief ich auch. Ich sah noch, wie meine Freundin Fedia aufstand und Friedrich Moeller etwas ins beseligte Ohr sagte. Ich sah noch, wie Frau Moeller an ihrem Busen mein Revers darstellte, an dem mein Abzeichen steckte, auf das sie mit spitzem Finger wies, was besagen sollte, mein Betragen komme nur von diesem Ding. Ich sah noch, wie der Genosse Winifred auf dieses Ding starrte, als zeige es nicht den epochalen Händedruck, sondern einen Dolch in geschwungener Faust. Ich sah noch, wie mein anarchistischer Tierhelfer den Mund bewegte, als rufe er: Wir sind wieder bei Bakunin. Ich sah noch, wie Freund Ronald sein Haupt unterm Mittelscheitel wiegte, als wohne die subversive Kraft von Komintern und Kominform darin. Ich sah noch, wie die ältere und die jüngere Schauspielerin von allen theoretischen Schulen und allen Praktiken ihrer Körpersprache ließen und den Satz: »Davon steht nichts im Stück!« ganz unausgestattet menschlich, ganz allgemeinmenschlich hinauf zur Decke der Probebühne riefen. Und ich sah, daß Friedrich Moeller wiegenden Schrittes nach vorn zum Podest ging, mit schnellem Tritt das Treppchen überwand, mit sanfter Gewalt ein schnäbelndes Mimenpärchen vom
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