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Okarina: Roman (German Edition)

Okarina: Roman (German Edition)

Titel: Okarina: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
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unterbrochen wurde, weil sich vergessene Einzelheiten – der eine Fußtritt, die andere Faustvoll Brot – am Wege meldeten und örtlich nahe Hauptsachen wie Majdanek und Kinderkreuzzugs-Bilgoray ihre erschreckenden Namen schrien, fand ich das Lager am Stadtrand von Pulawy. Unmittelbar an der Straße von Radom nach Lublin, genau in deren Mitte hatte es gelegen und lag es nun wieder. Heißer Sommer herrschte vor. Infolge einiger Sachkenntnis vermute ich, alle Lager der Welt gehen auf Blaupausen derselben Ursiedlung zurück. Doppelzäune, Wachtürme, der Torbereich mit Verwaltung und Postenunterkunft neben dem eigentlichen Lagertor. Hinter diesem die Baracken und zwischen denen Parzellen aus ehemaliger Heide, die bei tausend Appellen zu versandetem Filz getrampelt worden ist.
    Während ich aufmerksam durch Norddeutschland fuhr, lief ich aufmerksam das Lager im östlichen Polen an seinen Binnenzäunen ab und war des Frachtgewerbes vor und hinter mir weniger als der Wachen gewahr, die über mir an ihren Gewehren lehnten. Wo es nach Chlor und Holunder roch, befanden sich die Kloaken. Wo es nach Petroleum und niedersten Suppen roch, gab es die Küche und die Bäckerei. Wo es nach ranzigem Schweiß, nach Rotz und Wanzen roch, lag das Gefangenenquartier. Wo es nach Gewehröl und Machorka roch, hatte eben noch ein Posten gehockt.
    Doch schien das Revier gänzlich unbelebt, sobald ich Gesichter in ihm suchte. Anflüge waren da, keine faßbaren Züge. Vergeblich käme der Fahnder zu mir, um gestützt auf meine zweckdienlichen Hinweise den verschlagenen Unhold aus seinem Polizeikasten zu montieren. Beziehungsweise einen meiner Mitträger beim Großen Steinummarsch. Haarfarbe? Kurzgeschorenwaren alle. – Ohrenform? Auffallend groß infolgedessen. – Schnitt der Augen? Mißtrauisch, mißgünstig zusammengezogen. – Und die Mundpartie? Vergnatzt, vergreint, verkniffen, gemein. – So etwa wie diese? Weiß nicht mehr. – Schritten Ihre Nebenleute aufrecht, gingen sie gebückt? Hat sich mir nicht eingeprägt. – Herrjenochmal, waren die Leute alt oder jung? Fast jeder, Herr Kommissar, mit dem ich in dieser Zeit Umgang hatte, ist älter als ich gewesen; fast alle, Herr Kommissar, mit denen ich heute Umgang habe, sind jünger als ich. Es wird wie mit Gulliver gehen, der ein Zwerg bei den Riesen und ein Riese bei den Zwergen ist.
    Weil ich unergiebig war, haben mich Kommissar und Lokal-Erforscher irgendwann mir selber überlassen. Mit dem Ergebnis, daß ich den räudigen Platz immer noch durchstochere, als hinge von einem Mindestertrag mein Leben ab. Was es ja tut. Nicht ausgefallene Begriffe wie Entfremdung sind nötig, mich in Gang zu setzen; Dinge des täglichen Lebens reichen zu. Ein Beispiel von vielen: Überm Schmortopf, in dem ich mir als einer längst singlierten Person mein Gulasch bereite, frage ich mich, wie weit man die Speise verdünnen müßte, um sie in die Nähe jener Substanz zu bringen, der ich allsommertäglich dort begegnete, wo sich die Arbeitsproduktivität mit Ein-Stein-pro-Tag-und-Mann bemaß. Wassermengen kommen mir in den Sinn, die, würden sie dem Großen Grothensee entzogen, diesen trockenlegen müßten. Unter vielen Daten im Küchenkalenderjahr war das als Suppe verkleidete Naß ungetrübt von jeglichem Fleische. So daß es, wo nicht den überhöhten Ansprüchen der Insassen, so doch allen Fundamental-Vegetariern genügt hätte. Nur ließen die in der fraglichen Zeit selten oder nie von sich hören.
    Meiner ersten Fahrt zum Anwalt folgten viele weitere. Weil jedes meiner Begehren mit gegnerischem Aufbegehren beantwortet und gegen jede meiner Klagen Verhaue aus Hörensagen und Leumundsfragen errichtet wurden und zu dem siebenhäuptigen Bericht des Blattes siebenhäuptige Berichte anderer Blätter traten. Was mir, auch wenn alles gang und gäbe war, nicht nur an den Zeitfonds wie an den Geldtopf ging, sondern mehr und mehr auf die Nerven. Jede Reise von Berlin zum Terminund jede vom Gerichtsort nach Iswalde-Dorf entzog den von mir passierten Landstrichen etwas von ihrem Charakter. Die Ecke im älteren Geesthacht, an der es betörend nach rauchfrischen Sprotten roch, stank mir bald. Kam ich am Geläuft von Redefin mit seinen stolzen Hengsten vorbei, dachte ich Zum Schinder mit euch Kleppern! Nahe Kampehl, in dem vom Ritter Kahlbutz die ledernen Reste ausgelegt sind, mutete mich dieser verwandtschaftlich an. Vorher, in Bergedorf, wo Alt-Kanzler Schmidt, genannt Schmidt-Schnauze, seinen Wahlkreis hatte,

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