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Okarina: Roman (German Edition)

Okarina: Roman (German Edition)

Titel: Okarina: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
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Lähmung, in die mich der Anblick der umgepolten Lemminge getrieben hatte, griff meine rauhwetterbewährte Winterjoppe, öffnete bedacht die Autotür und stand jählings, mehr als verdattert nahm ich es wahr, unter einem dunklen Himmel in einem sommerlichen Wind. Oder wenn nicht sommerlichen, so doch südlichen. In warmer Luft zumindest, abluftwarmer,wie sie der Obdachlose liebt, der sich in kalter Winternacht auf das Gitter überm Schacht vom Warenhauskeller bettet.
    Nur war ich, so gesehen, obdachlos nicht, war lediglich vom Kurs, der in eine frostgefährdete Hütte hätte führen sollen, um etliches abgewichen. Mit nichts Geringerem im Schilde, als unters Dach der Kindheit zu kommen. Fort vom Harm in die Harmonie. Wenn nicht nach Harmonia, so nach Hammonia. Unter den Fittich der Heimat. Doch wie empfing mich diese. Mit lärmenden Bürgerschwärmen, an denen nicht viel von Trutz blanke Hans! und wenig hanseatisch Gefaßtes war. Und die sich ohne jede Erkennungsszene, dafür aufs äußerste bewegt, fort aus dem erstarrten Segelrevier in die Uferpromenadenbüsche schlugen, um durch die hindurch über das Rasenstück stadtwärts davonzuhasten. Fast rasend an mir vorbei. Vorbei.
    Kaum hatte ich mich entschieden, gegen den Strom an den Fluß zu treten, kaum setzte ich an, mir eine Gasse durch die landwärts drängende Masse zu schlagen, erschien ein Helikopter zu unseren Häupten, aus dem eine membranverzerrte Kommandostimme sprach, die Polizei rate dringend zum Verlassen von Alstereis und Flußbereich. Aus dem Rush und dem Run ans rettende Ufer zu schließen, hatte der Hubschrauber schon länger so Apocalypse-Now -nah getönt, und aus der Erklärung, die er seinem Rat folgen ließ, anstatt sie ihm voranzustellen, erschloß sich der Grund der Raserei um mich her. Eine überaus kräftige Warmfront, so das Warnwort, sei drauf und dran, sich jäh über den deutschen Norden zu breiten. Vorerst noch nicht das Eis auf dem Fluß, wohl aber die Wolken über ihm drohten zu brechen und das von Grund auf kalte Land zwischen Eider und Oder unter Wasser zu setzen. Mit dem gleichzeitigen Auftreten von zwei altbösen Feinden des Verkehrsteilnehmers, nämlich starker Nebelbildung und starker Glatteisbildung, müsse gerechnet werden, weshalb sich empfehle, den Heimweg alsbald anzutreten.
    Vergebens, denke ich, wird man in der Polizeigeschichte nach Geschehnissen suchen, bei denen ein Ordnungskräftewort derart prompt zu derartigen Wirkungen führte und ein Alsbald so bald befolgt worden ist. Allenfalls dem verworrenen Zettelkramdes überforderten Oberostberliners, der womöglich ein Oberschlaumeier war, allenfalls dessen momentaner Vorleseschwäche, aus der sich eine mauerbrechende Reiseordnung ergab, allenfalls seinem Zwei-Wörter-Jahrhundertbescheid Ab sofort vom Herbst 89 entsprang eine Fliehkraft, die sich jener vergleichen ließ, an die ich geriet, als ich an der Außenalster an meine losgelassenen Immermalwiederlandsleute geriet.
    Ich hatte keinen Grund, die Warnung vor dem Eissturm in den Wind zu schlagen; ich hatte vielmehr einen über zweihundert Kilometer langen Grund, der dringlichen Stimme aus den Wolken aufs Wort zu folgen; doch war da bis eben ebenso Grund gewesen, anstatt zum drohenden Eis von Iswalde zum nunmehr bedrohten Eis vor Pöseldorf zu fahren. Umkehr stante pede wäre Napoleons Aufbruch aus Moskau gleichgekommen. Auch sollten, wie ich es sah, bei zweihundert Kilometern zwanzig weitere Meter nicht zählen. Wie ich es sah – die anderen jedoch, die mir in fliehenden Kohorten entgegenkamen, sahen es anders. Soweit sie rechneten, rechneten sie in Zentimetern und gaben keinen davon kampflos preis.
    Meine Untugend, die in oftmals zu kaltem Blut besteht, kam zu voller Wirkung. Obwohl es unzart, ja Zahn um Zahn zuging, hatte ich Augen fürs Gesamtgetümmel wie für manche bizarre Einzelheit. Dieses, unter wahrlich anderem, sahen diese: Familienweise abmarschierende Eisfestgäste; der Vater, bewehrt mit einem Bug aus kufenstarrenden Schlittschuhstiefeln, als Rammbock voran; dahinter zum Keil gestaffelt die vollwüchsige Mutter nebst halbwüchsigen Kindern, deren Flanken mit Feldgestühl und Grillgeschirr gegen Nebenleute abgepanzert waren. Matronen und Patrone, von deren verzogenen Lippen man las, wie sehr sie die Launen der Natur mißbilligten. Etliche Liebespaare, die einem späteren Packeis-Film zum Vorbild gedient haben könnten, während andere denselben Streifen durch unheroisches Tun vorauseilend Lügen straften.

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