Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)
irgendwie
normalen
Eindruck.
Leokadia stürzte zum Telefon und rief die Verstärkung herbei, die sie für das bevorstehende Ereignis vorgesehen hatte. Orthon runzelte die Stirn.
»Die Zeit ist gekommen, Meister«, erklärte sie und zog lange Latexhandschuhe an.
»Vergessen Sie unsere Vereinbarung nicht«, murmelte Orthon zwischen den Zähnen. »Sollte meinen Sprösslingen irgendetwas zustoßen …«
»Das wird es nicht!«, unterbrach ihn Leokadia im gebieterischen Ton eines Menschen, der die Lage unter Kontrolle hat.
Sie konsultierte die verschiedenen Apparate und wählte den Tank aus, in dem der Prozess am weitesten fortgeschritten war.
Während die Verstärkung – zehn Wissenschaftler und ihre Assistenten, die ebenfalls auf der
Salamander
wohnten – in lange, makellos weiße Laborkittel schlüpfte, schob die Forscherin eine Trittleiter neben den Brutkasten und stellte sich auf die oberste Stufe. Pompiliu folgte auf der anderen Seite des Tanks ihrem Beispiel. Zusammen griffen sie nach einer Art klebrigem Schlauch, der mit einem Beatmungsgerät verbunden war: die Nabelschnur. Sie hatte einen Durchmesser von zwanzig Zentimetern, war mit dicken blauen Adern durchzogen und pulsierte über ihre ganze Länge, von der Maschine bis zum Bauchnabel des Wesens im Inneren. Leokadia und Pompiliu zogen an dem Schlauch und holten den Körper an die Oberfläche. Leokadia untersuchte das Geschöpf.
»Es ist so weit«, schloss sie mit bebender Stimme.
Beide stiegen eilig wieder hinunter und betätigten einen kleinen Hebel. Orthon sah besorgt zu, wie die Flüssigkeit durch einen dünnen Schlauch ablief und der Brutkasten sich leerte.
Nach und nach wurde das Wesen enthüllt. Als fast kein Wasser mehr übrig war, blieb es zusammengekrümmt am Boden liegen und wand sich träge in alle Richtungen. Leokadia öffnete unten am Tank eine Luke, zwängte sich hinein und machte sich an der Nabelschnur zu schaffen, die noch mit dem Beatmungsgerät verbunden war. Mehrere Schnitte mit dem Skalpell waren nötig, um den dicken Schlauch zu durchtrennen.
Orthon beugte sich zur Öffnung. »Geht es ihm gut?«, fragte er.
Leokadia war zu beschäftigt, um ihm zu antworten. Sie bedeutete ihren Assistenten, das Krankenbett herzuschieben. Pompiliu half ihr, das Wesen aus dem gläsernen Brutkasten zu bugsieren, und zusammen legten sie es so behutsam wie möglich auf das Bett.
Für ein Neugeborenes war das neunzig Zentimeter lange und zehn Kilo schwere Geschöpf außerordentlich kräftig. Doch das war nicht das Auffallendste an ihm. Sein Körper erinnerte an den eines ganz alten Menschen, und seine Haut war welk und so durchsichtig, dass man das schwarze Blut darin zirkulieren sehen konnte. Das Herz war ebenfalls deutlich zu erkennen, es schlug wie ein Uhrwerk.
Wenn es einem gelang, über die Hässlichkeit dieses Körpers hinwegzusehen, galt der nächste Blick dem Gesicht, und das rief entweder das pure Grauen oder absolute Faszination hervor. Die Züge des Wesens waren menschlicher als die eines echten Durchscheinenden, sie hatten eine beunruhigende, ernste Schönheit, wie die mancher Kinder – bestimmt war Orthon als kleiner Junge so gewesen: vollkommen runde Wangen, schön gezeichnete Lippen. Vor allem hatte es einen ganz erstaunlichen Blick.
In den wimpernlosen Augen von der Farbe eines bleigrau-metallisch schimmernden Gewitterhimmels war schon alles zu sehen. Sie strahlten eine scharfe Wahrnehmungsfähigkeit und eine Grausamkeit aus, die sich später einmal über jedes Hindernis hinwegsetzen würde.
Leokadia versorgte das zappelnde Neugeborene, das dabei mehrmals nach ihr schnappte. Sie entfernte die letzten weißen Fasern, desinfizierte das Stück Nabelschnur, das aus dem Bauch ragte wie eine seltsame Wucherung, und bedeckte schließlich den monströsen Körper mit einem Laken. Dann wandte sie sich den fünf anderen Geschöpfen in den Glaskästen zu, deren Geburt unmittelbar bevorstand.
Mit dem Stolz eines jungen Vaters beugte sich Orthon über das Bett und bewunderte seine erste eigene Schöpfung. Er streckte die Hand aus, um das Gesicht des Wesens zu streicheln. Die Anwesenden beobachteten ihn dabei mit großen Augen, doch sie sagten nichts.
»Du bist perfekt«, murmelte er.
Das Geschöpf drehte den Kopf zu ihm, verzog den Mund zu einem kleinen Lächeln und entblößte seine winzigen Zähne. Orthon war so gerührt, dass er sich ganz dicht über seinen Sprössling beugte. Fasziniert musterte er ihn, und das Neugeborene schaute wie
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