Oksa Pollock. Die Unverhoffte
über dem Boden des Silos, und setzte sich darauf.
Die Goranov-Mutter stieß einen erschrockenen Schrei aus: »Zu Hilfe! Die Junge Huldvolle wird auf mich fallen und mich zerquetschen! Das ist mein Ende!«
Oksa stellte die Füße auf das schmale Geländer und richtete sich auf. Sie legte die Arme an den Körper, machte ein paarmal die Augen auf und zu und stellte den rechten Fuß geradewegs vor sich ins Leere. Dann holte sie den linken Fuß nach und stieg – ganz langsam, um die Goranov nicht zu ängstigen, die schon vorsorglich die Blätter eingezogen hatte – zum Boden hinunter.
Abakum hatte sich an das Geländer gelehnt und klatschte begeistert Beifall, unterstützt vom Getorix und der Merlikokette, die sich in Kastagnetten verwandelt hatte. Derart angefeuert, machte sich Oksa gleich wieder an den Aufstieg, diesmal aber deutlich schneller und bis ganz unters Glasdach des Silos. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, schon hatte sie die Kuppel erreicht. Das allerdings hatte Oksa nicht mit der nötigen Präzision berechnet: Sie stieß heftig mit dem Kopf gegen das Glas. Benommen registrierte sie noch, wie ihr alles vor den Augen verschwamm und alle Geräusche auf einmal von weit, weit her kamen, dann stürzte sie in ein gähnendes dunkles Loch.
Volltreffer
A
ls Oksa wieder zu sich kam, lag sie im Waldzimmer auf ihrem Bett. Abakum saß, mit einem Kapiernix auf dem Schoß, in einem Sessel vor einem der zwei großen Glasfenster. Als er bemerkte, dass Oksa aufgewacht war, setzte er das Geschöpf ab, das friedlich auf die Bäume hinausschaute, und ging zu ihr.
»Wie fühlst du dich?«
»Ich würde am liebsten vor Scham im Erdboden versinken«, gab Oksa zurück, den Blick zur Decke gerichtet.
»Nicht doch. Wir lernen schließlich aus unseren Fehlern. Du hast dich von deiner Begeisterung mitreißen lassen, das ist ja auch ziemlich normal mit dreizehn Jahren. Du musst einfach noch lernen, dir der Risiken bewusst zu werden, die dein Temperament mit sich bringt. Und das wird dir nicht an einem einzigen Tag gelingen, so viel kann ich dir verraten. Die Lektion aus dem heutigen Missgeschick lautet, dass du besser zuerst nachsiehst, ob da eine Decke ist, bevor du dich ans Vertikalieren machst.«
»Ganz bestimmt«, murmelte Oksa. »Hast du mich … aufgefangen?«
»Nein, Oksa, das waren die Froschlinge. Sie sind dir zu Hilfe geflogen und haben dich sicher zurück auf den Boden gebracht. Ich kann gar nicht vertikalieren.«
»Was? Du kannst es nicht? Aber du kannst doch so viele Dinge!« Oksa stützte sich verblüfft auf den Ellbogen.
»Nein. Ich bin ein Silvabulaner, und die Silvabulaner vertikalieren nicht, sondern bleiben schön brav in Kontakt mit dem Boden, im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinn. So ist das. Aber dafür können wir andere Sachen. Das hier zum Beispiel.«
Abakum streckte den Arm über Oksa aus, die sich skeptisch fragte, was daran nun so außergewöhnlich sein sollte. Allerdings änderte sie ihre Meinung, als sich der besagte Arm immer weiter verlängerte – zunächst nur um einige Zentimeter, schließlich aber bis zum Türknauf am anderen Ende des Zimmers! Oksa pfiff bewundernd durch die Zähne.
»Nun? Wie findest du das?«, fragte Abakum und zog seinen Arm wieder auf die normale Länge ein.
»Wie ich das finde? Ich habe schon mal gesehen, wie du das gemacht hast, nämlich als Baba uns mit dem Filmauge eure Flucht aus der Gläsernen Säule zeigte. Du bist über die Brüstung des Balkons gestiegen und hast die Arme bis zum Boden hinuntergestreckt. Das war absolut irre! Aber in echt ist es noch viel besser!«
Darauf ließ sie sich erschöpft in ihr Kissen zurücksinken.
Oksa lag im Bett, den Blick auf die Bäume gerichtet, die sich sanft in einer leichten Brise wiegten. Sie rieb sich die Augen, atmete tief durch und ließ die Arme schlaff auf die Bettdecke zurücksinken. Während ihr noch die Ereignisse dieses unglaublichen Tages durch den Kopf gingen, war ihr auf einmal, als klopfe es leise an der Tür.
»Ja?«, sagte sie und setzte sich auf.
Die Schiebetür glitt auf und zu Oksas Überraschung stand Tugdual Knut im Türrahmen.
»Hallo! Darf ich reinkommen?«
»Ja, klar«, antwortete Oksa ein wenig verwirrt.
Tugdual zog den Sessel, in dem Abakum vor einer Weile gesessen hatte, näher ans Bett und setzte sich ihr gegenüber. Er wirkte wesentlich entspannter als die vorigen Male, die sie ihn gesehen hatte. Er hatte sich die Haare schneiden lassen, und seine Augen waren
Weitere Kostenlose Bücher