Oksa Pollock. Die Unverhoffte
hintenübergekippt. Dragomira hatte das Schwimmen aufgegeben und war zu einer ganz anderen Fortbewegungsart übergegangen: Sie ging über den See, als hätte sie festen Boden unter den Füßen! Sie stand buchstäblich auf dem Wasser , lehnte sich an das Haselhuhn und drückte mit ihrem ganzen Gewicht dagegen, als würde sie einen Schrank verrücken oder ein liegen gebliebenes Auto anschieben wollen. Das war in diesem Fall tatsächlich erheblich effizienter, als zu schwimmen. Leomido, der die Strategie seiner Schwester durchschaut hatte, lenkte das rötliche Haselhuhn hinter seinen Kameraden, um ihr bei dem Manöver zu helfen. Lauthals schreiend und mit aller Kraft schiebend, gelangten sie bald ans Ufer. Leomido sprang an Land und half Oksa und Gus beim Absteigen.
»Tretet zurück, Kinder!«, befahl er ihnen energisch.
»Wir wollen dir helfen!«
»NEIN!«, antwortete er schroff. »Weg vom Ufer mit euch!«
Und er hievte das Haselhuhn mühsam an Land, wobei er es am Hals zog, während Dragomira sein Hinterteil schob.
»Uff, ich dachte schon, wir schaffen es nie!«, seufzte sie, von Kopf bis Fuß durchnässt.
Leomido eilte zu ihr und legte ihr seine Samtjacke um die Schultern. Dann wandte er sich an Gus: »Gus, mein Junge, läufst du bitte mal zum Hühnerstall? Dort ist ein Schrank, du wirst schon sehen. Nimm alle Decken, die du finden kannst, und bring sie her.«
Das ließ sich Gus nicht zweimal sagen und legte einen Höllensprint hin: den Sprint des Jahrhunderts! Drei Minuten später war Dragomira wie eine Mumie in mehrere Schichten von Decken gewickelt und ihr Zähneklappern und Frösteln hörte sofort wieder auf.
»Was hat es denn, Baba?«, fragte Oksa und betrachtete das Haselhuhn, das sich vor Schmerzen krümmte.
»Ich weiß es nicht. Es ist das erste Mal, dass sich ein Haselhuhn so verhält. Ach, seht nur, es ist verletzt!«
In der Tat! Und seine Verletzung war sicher nicht alltäglich: Einer seiner Füße sah aus, als wäre er zu Glas geworden ! Das arme Geschöpf versuchte vergeblich, ihn zu bewegen. Seine Schmerzensschreie, die zuerst gellend gewesen waren, gingen allmählich in ein lang gezogenes, mitleiderregendes Stöhnen über.
»Denkst du dasselbe wie ich, Leomido?«, fragte Dragomira ihren Bruder und sah dabei weiterhin auf das Haselhuhn.
»Ich fürchte, ja«, antwortete er mit düsterer Miene.
»Was ist los?«, fragte Oksa nun. »Baba? Leomido?«
Sie antworteten ihr nicht. In dem drückenden Schweigen klangen die Klagelaute des Haselhuhns noch unerträglicher.
»Jetzt sagt uns doch, was los ist!«, rief Oksa drängend.
Dragomira und Leomido musterten unverwandt den gläsernen Fuß. Endlich hob Leomido den Kopf, schaute erst zu Gus, dann zu Oksa und sagte schließlich mit erstickter Stimme: »Ein Colocynthis … ein Schwarzer Globulus …«
Leomido blieb bei dem verwundeten Haselhuhn, während Dragomira, die nur mühsam vorankam, weil sie so fest in die Decken gehüllt war, zusammen mit Oksa und Gus zum Haus zurückging. Sie gab sich große Mühe, die Kinder nicht merken zu lassen, wie verstört sie war. Außer Atem und mit wild klopfendem Herzen kamen alle drei in dem großen Salon an.
»Gus, Oksa, wartet hier auf mich!«, sagte Dragomira in ernstem Ton. »Ich schließe die Türen und ihr dürft auf keinen Fall nach draußen gehen. Wenn es irgendein Problem gibt, soll dieser Rasando hier mich benachrichtigen. Wie sich aus seinem Namen schließen lässt, ist er extrem schnell.«
Ein Geschöpf mit langen gestreiften Pfoten, das Ähnlichkeit mit einem Wiesel hatte, eilte herbei und baute sich stolz vor ihnen auf, bereit, in Aktion zu treten.
»Ich bin spätestens in einer halben Stunde wieder da. Aber erst mal ziehe ich mich um, ich will mir keine Lungenentzündung holen, das hätte jetzt gerade noch gefehlt«, sagte Dragomira fast wie im Selbstgespräch.
Dann wandte sie sich den beiden Freunden zu: »Ich werde Leomido eine Salbe für das arme Haselhuhn bringen. Liebe Plemplems, ihr passt bitte auf die Kinder auf.«
Oksa wollte ihre Großmutter schon fragen, was es mit dem mysteriösen Colocynthis auf sich hatte, doch als sie den merkwürdig verkrampften Ausdruck in ihrem Gesicht sah, beschloss sie, ihre Frage auf später zu verschieben. Inzwischen hatte Dragomira auch schon kehrtgemacht und die Tür hinter sich zugezogen. Verdutzt sahen sich Gus und Oksa an.
»Na, so was! Ich würde zu gern verstehen, was hier los ist«, meinte Gus.
»Ich will dir sagen, wie ich das sehe«, sagte
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