Oksa Pollock. Die Unverhoffte
dich jemand vom Haselhuhn aus rufen!«, schrie sie.
»Was sagst du da? Das kann nicht sein!«
Aber es war so! Es war wirklich Leomidos Name, den sie da hörte!
Leomido nahm sein Granuk-Spuck in die Hand und blies eine Reticulata heraus, um zu erkennen, wer ihn da so eindringlich rief. Mit der Blasen-Lupe vor dem Gesicht hielt er kurz reglos inne, seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Schreckensbleich klammerte er sich an den Rand des Korbs.
»Nein, nein, das ist vollkommen unmöglich«, stammelte er, als hätte er ein Gespenst gesehen.
Tatsächlich war eine dunkle Gestalt auf dem Rücken des Haselhuhns zu erkennen, eine Gestalt, die Gus merkwürdig vertraut vorkam … Aber nein, das konnte nicht sein. Es war sicher nur eine vage Ähnlichkeit. Eine Halluzination. Ein Sehfehler. Ein sehr schwerwiegender Sehfehler!
»Gus, ich glaube, wir haben ein Problem«, murmelte Oksa und deutete auf ihren leichenblassen Großonkel.
»Ja, und da gibt es noch eins«, antwortete Gus und zeigte auf das Haselhuhn. Je näher es kam, umso deutlicher bestätigten sich seine dumpfen Ahnungen. »Schau mal!«
Oksa drehte sich um und erlitt den Schock ihres Lebens. Es war kein Sehfehler. Es war eine Horrorvision. Ein Albtraum im Wachzustand. Ihr Klassenlehrer McGraw war da! Auf dem Rücken des Haselhuhns! Dort, im Himmel über Wales, mehrere Hundert Kilometer von zu Hause!
»McGRAW!«, schrien beide Freunde gleichzeitig.
»ORTHON!«, entfuhr es Leomido mit Grabesstimme.
Das unheilvolle Gespann kam noch näher und ihre letzten Zweifel lösten sich auf. McGraw schrie Leomidos Namen aus voller Kehle! Oksa sah ihren Großonkel verständnislos an. Als ihre Blicke sich trafen, schien die Zeit für den Bruchteil einer Sekunde still zu stehen. Oksa las panische Angst in Leomidos Gesicht, als hätte seine letzte Stunde geschlagen. Dann schüttelte er den Kopf, wie um seine schreckerfüllten Gedanken zu verscheuchen, und fasste sich wieder.
»Runter mit euch, Kinder, geht in Deckung!«, befahl er in ungewöhnlich schroffem Ton. Er stürzte zum Brenner, und mit einem Ruck stieg der Heißluftballon auf, doch McGraw blieb ihnen dicht auf den Fersen.
»Leomido!«, schrie er. »Gib mir Oksa! Das bist du mir schuldig! Ich habe mein ganzes Leben darauf hingearbeitet, dieses Kind ist mein Schlüssel!«
»Du bist wohl verrückt geworden, Orthon!«, antwortete Leomido.
»Erzähl du mir nichts von Verrücktheit! Sieh dir nur dein verpfuschtes Leben an! Schlag dich auf meine Seite! Ich habe im Da-Draußen eine Welt gefunden, die meinen Ambitionen entspricht, eine Welt, in der ich an der Spitze einer Armee meine Rückkehr vorbereitet habe. Eine neue Ära bricht an, eine Ära der Macht und des Lichts! Widersetze dich nicht, Leomido, ich habe große Kräfte! Dir bleibt gar nichts anderes übrig als die Zusammenarbeit, wenn dir dein Leben lieb ist!«
»Was soll das alles heißen? Woher kennst du ihn?«, schrie Oksa voller Angst und griff nach Leomidos Arm.
Dieser riss sich sofort wieder los, um sich auf den Ballon konzentrieren zu können, und drückte sie hinunter.
Oksa kauerte sich zusammen. »WIR SIND VERLOREN!«, schrie sie Gus panisch ins Ohr. »Siehst du, ich hatte recht! McGraw sucht mich, er ist gar kein Lehrer, er will mich entführen! Ich hatte recht, Gus!«
»Orthon!«, schrie Leomido aus dem Ballonkorb. »Gib auf! Oksa wird niemals mit dir gehen, hörst du mich? NIEMALS! Geh dorthin zurück, wo du herkommst!«
»Und was ist mit deinen ganzen Versprechungen? Du musst sie halten! Gib mir Oksa!«, antwortete McGraw.
Was sie da hörte, verwirrte und ängstigte Oksa, sie zitterte am ganzen Leib vor Panik. Sie machte sich in einer Ecke des Ballonkorbs noch kleiner als zuvor und fragte Gus: »Was soll das alles? Warum nennt Leomido ihn Orthon? Ich verstehe gar nichts mehr … und ich sterbe vor Angst!«
»Hast du dein Granuk-Spuck dabei, Oksa?«, fragte Gus eindringlich.
Oksa bejahte.
»Ich glaube, es ist Zeit, ihm zu zeigen, was du kannst. Los! An die Arbeit!«, forderte er sie energisch auf.
»Du hast recht«, sagte sie, wieder etwas gefasster.
Sie holte das kleine Rohr aus der Innentasche ihrer Jacke und richtete sich ein wenig auf. Sie ließ nur den oberen Teil ihres Kopfes herausschauen, sah über den Rand des Ballonkorbs nach draußen und erblickte McGraw in wenigen Metern Entfernung. Er hielt irgendeinen Gegenstand, der in der Sonne glänzte, auf die Hülle des Heißluftballons gerichtet. War es eine Waffe? Eine Pistole? Sie
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