Oktoberfest
Funk gerufen. Vor dem Zelt stand ein Mann und rief irgendetwas in ein Megafon.
Iljuschin erreichte die Stellung des Scharfschützen. Jetzt konnte er die Worte verstehen, die blechern aus dem Lautsprecher vor dem Zelt drangen. Die verstärkte Stimme bat darum, ins Zelt kommen zu dürfen, um zu verhandeln.
Der Nahkampfspezialist schüttelte den Kopf.
»Was ist das denn für ein Komiker?«, fragte er mehr sich selbst als den Scharfschützen, der auf ein fest montiertes Fernglas deutete.
Dieses Fernglas ermöglichte es den Scharfschützen, den gesamten Vorplatz des Zeltes sowie die Wirtsbudenstraße im Blick zu behalten. Für die Okulare waren kleine Aussparungen in den Spanplatten der Vorderfront angebracht.
Iljuschin bückte sich und sah hindurch. Zwischen zwei überdimensionalen Bierfässern, die als Dekoration für den Eingang zum Biergarten dienten, stand ein hochgewachsener Mann in einem Maßanzug.
Iljuschin erkannte den Mann sofort. Der war bereits mehrfach im Fernsehen aufgetaucht. Das war der Beauftragte der Bundesregierung. Mühe oder Kühe oder so. Und dieser Hampelmann stand jetzt vor dem Zelt und machte Lärm.
Ohne erkennbare Eigensicherung.
Was für ein Trottel.
Wenn ein Vertreter des Gegners unbewaffnet zum Feind geht, dann eigentlich nur, um die Bedingungen für die Kapitulation zu verhandeln. Aber es gab nichts zu verhandeln. Das hatten die da draußen wohl immer noch nicht begriffen.
Bei ihrer Planung waren sie davon ausgegangen, dass so etwas zu diesem Zeitpunkt nicht mehr passieren würde. Sie hatten ihren Standpunkt doch mehrfach unmissverständlich deutlich gemacht. Der Gegner musste eigentlich inzwischen verstanden haben, dass er gezwungen war, die Forderungen zu erfüllen.
Aber der da draußen glaubte wohl nach wie vor, er habe es mit ein paar Bankräubern zu tun, die langsam nervös wurden. Für diese Fehleinschätzung musste die Gegenseite bestraft werden.
Iljuschin bekam spontan gute Laune.
Zeit für ein weiteres Exempel.
Er öffnete eine der kleinen Schießscharten, die für die Verteidigung im Falle eines frontalen Angriffs in die Vorderfront des Zeltes gesägt worden waren, und sah den Scharfschützen an.
»Das Verhalten dieses Mannes könnte die gesamte Situation destabilisieren.« Iljuschin deutete auf das Scharfschützengewehr mit aufmontiertem Schalldämpfer, das auf einem Zweibein vor ihnen stand. »Darf ich?«, fragte er mit übertriebener Freundlichkeit.
Der Scharfschütze nickte. »Selbstverständlich, Polkownik!«
»Welche Munition befindet sich in der Waffe?«
»Hohlspitzgeschosse mit Quecksilberfüllung, wie Sie es uns beigebracht haben.«
*
Kaliningrad, 21:15 Uhr Ortszeit
Dr. Urs Röhli wusste nun, dass ihm eine langwierige Suche bevorstand. Doch heute Abend würde er nichts mehr ausrichten können. Zumal er um halb elf noch einen weiteren Termin hatte. Mit Oberst Klarow von der Miliz. Den würde er in einem Lokal namens »Oleg« treffen, das er nicht kannte. Auch wusste er nicht, wo dieses Lokal überhaupt lag. Der Milizoffizier hatte diesen Treffpunkt vorgeschlagen. Er würde morgen weitersuchen müssen.
Er wandte sich wieder den Unterlagen zu. Enttäuscht sah er auf das Fotoalbum, das aufgeschlagen vor ihm lag. Da war jemand auf der Hut gewesen. Alle Spuren waren verwischt worden.
Seine größte Hoffnung waren die Fotoalben des alten Professors gewesen. Aber jemand hatte vor nicht allzu langer Zeit eine große Anzahl von Bildern entfernt. Die hellen, ausgerissenen Stellen auf dem alten Papier waren unmissverständliche Indizien.
Gemeinsam mit Dr. Ivanov saß er an einem großen Schreibtisch zwischen hohen Stapeln von Aktenordnern. Während er sich den privaten Nachlass vorgenommen hatte, hatte der russische Archivar in militärischen Akten gewühlt. Immer wieder hörte er seinen Kollegen vor sich hin brummeln.
Die meisten Unterlagen existierten doppelt. Nur waren die Durchschläge auf zahllose andere Aktenbestände verstreut. Akten der medizinischen Abteilungen, Akten der Materialbeschaffung oder auch Akten der Witwenversorgung.
Plötzlich stieß Dr. Ivanov einen lauten Ruf aus. »Ha! Schauen Sie mal, Dr. Röhli. Ich glaube, damit könnte man etwas anfangen. Ich werde Ihnen gleich eine Kopie davon machen.«
Urs Röhli war mit wenigen Schritten bei ihm. Alexander Ivanov hielt ihm einen Durchschlag unter die Nase. Das Papier war vergilbt.
»Was ist das?«
»Eine Liste von einer medizinischen Routineuntersuchung aus dem Jahr 1979. Belastungs-EKG,
Weitere Kostenlose Bücher