Oktoberfest
Blutzuckerwerte und solche Sachen. Sehen Sie hier.« Der Finger des alten Archivars glitt über das Papier und blieb an einer Zeile mit dem Titel »Einheit« hängen, die sich am oberen Rand des Formulars befand. Dahinter war mit Schreibmaschine eingetragen:
»Путещественники. Puteschestwenniki.«
Darunter eine tabellarische Namensliste.
Fünfundsechzig Namen.
»Sind das einige der Puteschestwenniki, die in Deutschland eingesetzt werden sollten?«, fragte Röhli.
»Ohne Zweifel, ja. Hier steht der Name des Sonderausbilders der Männer an der Militärakademie. Sehen Sie.« Der Finger des Russen wanderte weiter über das Papier.
Dr. Urs Röhli sah auf den Namen.
Prof. Dr. Samuel Stern.
*
Iljuschin hob das Heckler & Koch PSG-1 mit einem Arm vom Boden hoch, als handele es sich um ein Spielzeug aus Balsaholz. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sich eine Patrone in der Kammer befand, brachte er die Waffe stehend-freihändig in Anschlag.
Ausatmen.
Einatmen.
Ausatmen.
Halb einatmen.
Er sah durch die Zieloptik. Lächerliche Entfernung für ein solches Gewehr. Nicht einmal einhundert Meter. Langsam senkte er das Visier der Waffe von oben ins Ziel. Sein rechter Zeigefinger suchte den Druckpunkt des Abzugs. Schließlich befand sich die Nasenwurzel seines Ziels genau in der Mitte des Fadenkreuzes.
Mit einer geschmeidigen Bewegung zog Iljuschin den Abzug durch.
Der Schuss war kaum lauter als das Öffnen einer Sektflasche.
Dr. Roland Frühe wurde mitten in die Stirn getroffen.
Das Hohlspitzgeschoss durchschlug zunächst die Stirnplatte des Schädels. Durch den Aufprall auf den harten Knochen pilzte das Projektil auf. Dabei entließ es unzählige kleine Quecksilbertropfen, die sich nun ebenso viele Wege durch den Kopf bahnten.
Der Klumpen deformierten Metalls durchquerte zunächst die vorderen Hirnlappen und dann das Stammhirn. Als er auf dem Schädelknochen an der Rückseite auftraf, hatte er den Durchmesser eines Tischtennisballs.
Noch immer steckte gewaltige Energie in dem Geschoss.
Diese Energie riss Dr. Roland Frühe den Hinterkopf weg und hinterließ ein Loch von der Größe zweier Handteller. Die durch das Quecksilber breiige Hirnmasse spritzte in einem Halbkreis von acht Metern auf die Wirtsbudenstraße.
Das Megafon flog in hohem Bogen durch die Luft. Der Staatssekretär fiel nach hinten, und ein Schwall Blut ergoss sich aus den Überresten seines Schädels auf den Asphalt. In seinen Zügen war noch immer Erstaunen zu lesen.
Iljuschin ließ das Gewehr sinken.
»Man kann so viele umbringen, wie man will.« Er schüttelte langsam den Kopf, während er mit sich selbst sprach. »Die Schwachköpfe sterben einfach nicht aus.«
In seinen Augen lag ein seltsames Flackern.
*
Amelie Karman saß in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa. Der Aufmarsch des Militärs hatte ihre gute Laune abrupt beendet. Überall Waffen. Die Angst um Werner war zurückgekehrt. Sie sah auf die leergegessene Aluminiumschale, die vor ihr auf dem Couchtisch stand.
Fischfilet à la Bordelaise.
Im Fernsehen lief CNN. Der Ton war abgeschaltet. Seit die Bundeswehr die Theresienwiese abgeriegelt hatte, gab es keine Live-Bilder vom Ort des Geschehens mehr. Dafür zeigten die Nachrichtensendungen jetzt Aufnahmen von den Straßensperren und Kontrollposten. Auch die beflaggte Fassade des Rathauses war ein beliebtes Motiv. Reporter berichteten darüber, dass die Einkaufszentren in der Peripherie der bayerischen Landeshauptstadt bewacht würden.
Sie nahm einen tiefen Schluck aus dem Weinglas.
Eine etwa zehnminütige Ansprache des Stadtkommandanten von München wurde in regelmäßigen Abständen wiederholt. Auch der Rundfunk hatte die Ansprache mehrere Male gesendet. Alle Zeitungen druckten sie im Wortlaut ab. Sie begann mit dem berühmten Zitat des Grafen von der Schulenburg-Kenert aus dem Jahre 1806: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.
Von einer vorübergehenden Einschränkung der Grundrechte aufgrund der vom Bundestag festgestellten Ausnahmesituation sprach der General. Und davon, dass er die Sicherheit jedes Münchners garantiere. Dass er und seine Männer die von der Verfassung gewährleistete freiheitlich-demokratische Grundordnung mit ihrem Leben schützen würden.
Auch die Bilder von den Olympischen Winterspielen in Innsbruck waren wieder und wieder gezeigt worden. Zwanzig Kilometer und kein einziger Fehlschuss. Der »Teufel in der Loipe« bei seinem dramatischen Schlussspurt. Wie der junge Moisadl dann mit der
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