Oktoberfest
nicht mehr abschicken.« Iljuschin tippte mit einem Finger auf den Bildschirm vor sich, der die Online-Ausgabe der Zeitung zeigte.
»Wir kennen die Journalistin sogar, die das zustande gebracht hat. Sehen Sie nur.«
Blochin lehnte sich nicht nach vorne, um den Namen in der Autorenzeile zu lesen. Er sah den Obersten nur an. »Ist das Ihr Ernst? Ist es tatsächlich …«
Als Iljuschin sich nickend zu seinem Kommandeur wandte, dachte er an das Foto, das sich in seiner linken Brusttasche befand. Direkt über dem Herzen. Mit einer schnellen, reptilienhaften Bewegung glitt seine Zunge über seine Lippen. Die seltsame mimische Regung des Nahkampfspezialisten entging Blochin.
Der General würde sich noch wundern, dachte Iljuschin.
Ganz gewaltig wundern.
»Ja, General. Die Dame ist nicht nur augenscheinlich sehr attraktiv. Sie ist auch mit allen Wassern gewaschen. Würde mich ja schon interessieren, wie die junge Frau Karman das herausgefunden hat.«
»Das werden wir später sicher noch erfahren. In einem Jahr, wenn dann ihr Buch über unsere Operation erscheint, wird sie die Welt sicher wissen lassen, wie sie das angestellt hat.« Er schlug Iljuschin freundschaftlich auf die Schulter. »Und wo immer wir dann sein werden, wir werden dieses Buch lesen und uns köstlich amüsieren.«
Blochin musste sich eingestehen, dass er Respekt für die Leistung des Fräuleins empfand. Es war bestimmt nicht einfach gewesen, an diese Information zu kommen. Eigentlich hatten sie vorgehabt, um kurz vor acht eine Pressemeldung zu verschicken. Pünktlich zur Tagesschau. Eine detaillierte Schilderung des Massakers und seiner Entstehung. Mit ein paar ausgewählt grausamen Bildern zur Illustration.
Psychologische Kriegsführung.
Schwächung des Gegners.
Mit Hilfe der Wahrheit.
Aber so war es eigentlich noch besser. Je weniger sie sich selbst äußerten, desto stärker würde die Eigendynamik der sogenannten freien Presse entfesselt. Da waren die Demokraten doch immer so stolz drauf. Auf ihre freie Presse. Jetzt sollten sie mal sehen, was sie davon hatten.
Ein schmales Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht des Generals. Die Sturmhaube, die er nach dem Essen sofort wieder über sein Gesicht gezogen hatte, verdeckte allerdings die Bewegung seiner Mundwinkel.
»Ich werde mal überprüfen, was sich im Zelt tut.« Blochin winkte einen Hundeführer zu sich und nahm seine Patrouille durch das Zelt wieder auf. Seine Augen glitten durch die langen Reihen der Geiseln. Dabei suchte er, wie schon seit Beginn der Operation, nach ganz bestimmten Anzeichen.
Aber er hatte diese Anzeichen noch nicht entdecken können.
Sollte er sich in diesem Punkt geirrt haben?
*
Werner Vogel konnte die Langeweile auf dem Gesicht von Matthias deutlich ablesen. Ihm erging es nicht anders. Sein neuer Bekannter sah jedoch sehr viel ausgeruhter aus, als er sich selbst fühlte. Sein Nacken schmerzte. Er hatte in einer unglücklichen Position geschlafen. Er bewegte den Kopf hin und her, um die Muskeln zu lockern.
Dabei klopfte er die Taschen seiner Jacke ab, ohne zu wissen, was er eigentlich finden wollte. Er hatte Lust auf eine Zigarette. Vor zwei Jahren hatte er das Rauchen aufgegeben. Doch jetzt wurde der Stress einfach zu viel, seine Nerven verlangten nach Beruhigung. Er winkte einen der Verkäufer zu sich an den Tisch. Sogar die Zigaretten waren umsonst. Über die Versorgung konnte man sich wirklich nicht beklagen. Am Morgen waren kostenlose Kopfschmerztabletten ausgegeben worden, um den zahlreichen Verkaterten den Start in den Tag zu erleichtern.
Ein Feuerzeug hatte er doch bestimmt dabei. Die Angewohnheit, ein Feuerzeug mitzunehmen, hatte er beibehalten. Da ertasteten seine Finger einen länglichen, flachen Kasten in einer der geräumigen Außentaschen seiner Jacke.
Ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit.
Er sah Matthias an. »Kannst du Schach spielen?«, fragte er.
»Na ja.« Matthias erwiderte seinen Blick mit einem skeptischen Gesichtsausdruck. »Ich weiß, wie die Figuren ziehen. Aber ich würde nicht sagen, dass ich wirklich Schach spielen kann.«
»Das ist egal«, sagte Werner und zog das kleine magnetische Schachspiel aus seiner Jackentasche. »Ich bringe es dir bei. Ich bin ein ganz passabler Spieler. Wenn wir hier noch lange festsitzen, dann kommst du als Schachexperte aus diesem Zelt wieder raus. Ich meine, so in ein, zwei Jahren.« Er grinste Matthias an. »Wollen wir’s versuchen?«
»Von mir aus. Aber ich habe dich gewarnt.«
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