Olfie Obermayer und der Ödipus
überlegte, erschien es mir sogar unmöglich. Ich wollte zu den Fenstern vom Wirtshaus hin, um in die Gaststube zu spähen, doch auch davon hielt mich die Joschi ab. »Nein, nein, wie schaut denn das aus, wenn uns wer sieht?« sagte sie und packte meine Hand.
»Okay«, sagte ich. »Dann warten wir halt hier, bis er he-rauskommt!«
»Ich muß aber aufs Klo«, sagte die Joschi. »Und so einen Hunger hab ich auch.«
»Rein willst du nicht, draußen bleiben willst du nicht, was willst du eigentlich?« schnauzte ich die Joschi an; was sehr ungerecht war, weil ich mir selbst die gleiche Frage hätte stellen können.
»Ich möcht reingehen und Würstel essen und aufs Klo, aber noch nicht nach deinem Vater fragen«, sagte die Joschi.
»Wir können ihn doch zuerst einmal anschauen. Vielleicht sagt jemand laut zu ihm 'Herr Müller', dann wissen wir, wer er ist!«
Mir erschien das als brauchbarer Kompromiß. Wir marschierten durch die offene Tür ins Wirtshaus, ich ging auf die Tür mit der Aufschrift »Gaststube« zu, die Joschi wieselte weiter, zur Tür mit den Doppelnullen.
Jungfrau, sprich dein letztes Gebet, murmelte ich mir zu und machte die Tür auf. Die Gaststube war ziemlich leer.
An zwei Tischen saßen je zwei Männer, aber die nahm ich gar nicht so richtig wahr, denn an der Theke, gleich neben der Tür an der Espressomaschine, lehnte ein Mann - vor
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ihm lag ein Hund -, und der Mann war der Johannes Müller! Und der Johannes Müller war eindeutig mein Vater!
Mir blieb die Luft weg vor lauter andächtigem Staunen, daß einem jemand derart ähnlich sehen kann. Er war, echt und ehrlich, ein etwas verknittertes, etwas abgenutztes Duplikat von mir! Man könnte auch sagen, ich sei die restaurierte Ausgabe seiner Person! Die Augen, der Haaransatz, die Nase, das Kinn samt der kleinen Querfalte unter der Lippe, die Augenbrauen, die über der Nase fast zusammenwuch-sen, sogar die - wie Doris sagt - unmännlich langen Wimpern, alles stimmte. Ich hab mich mein Lebtag lang ja schon gewundert, daß ich mit niemandem in meiner Familie auch nur ein Fuzerl Ähnlichkeit habe. Habe ich alle meine blonden, blauäugigen, weißhäutigen Weiber angeschaut, hab ich mir schon immer gedacht, daß ich mein familien-fernes Aussehen von meinem Vater haben muß. Aber damit, daß ich auf einen alten Zwilling treffen könnte, hatte ich nicht gerechnet. Als ob mich der Mann allein erzeugt hätte, als ob dabei kein einziges Mama-Gen mitgemischt hätte, kam es mir vor.
Der Johannes Müller stellte das Bierkrügel auf die Theke und schaute mich an. Der Riesenhund hob den Kopf und schaute auch.
»Suchst du wen?« fragte mich der Müller. Ich nickte, schloß die Tür und schaute ihn weiter an. Angst hatte ich keine mehr. Vor einem verknitterten Zwilling braucht man sich nicht fürchten. Der Hund erhob sich und beschnupperte mich. Ich streichelte ihn und dachte: Der muß doch merken, daß ich ihm gleiche wie eine Kompottzwetschge der Dörrpflaume! Das gibt es doch nicht, daß er das nicht merkt!
Aber der Kerl tat nichts, was diese Annahme bestätigt hätte.
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So trat ich noch dichter an ihn heran, der Hund folgte mir, ich sagte:
»Ich heiße Wolfgang Obermeier. Ich bin der Sohn der Frau Dr. Moni Obermeier. Ich bin vierzehn Jahre alt.«
Damit, dachte ich, sei genug gesagt.
»Ja und?« fragte die Dörrpflaume. Es klang allerdings etwas unsicher.
»Sie sind doch der Herr Johannes Müller, oder?« fragte ich.
Die Dörrpflaume nickte.
Enttäuschung, getupft mit etlichen Sprenkeln Empörung, machte sich in mir breit. Vom neunundneunzig-komma-neun Prozent garantierten Papa nichts als ein verblödetes
»Ja und?« auf eine einmalige, tieferschütternde Offenba-rung zu erhalten, ist ja auch eine tragische Sache.
Am liebsten wäre ich umgedreht und hätte die Gaststube verlassen. Auf einen Na-und-Dörrpflaumen-Papa war ich nicht aus. Auf einen Vater ohne Erinnerungsvermögen und Scharfblick konnte ich spielend verzichten. Aber im Moment ging es ja gar nicht um mich, sondern um die Joschi, und ich fühlte mich verpflichtet, meine negativen Emotio-nen hintan zu stellen. Ich sagte: »Sie haben doch meine Mutter gekannt. Früher, wie ich noch nicht auf der Welt war!«
Mein alter Zwilling nahm einen großen Schluck vom Bier, wischte mit einer Hand über die Oberlippe, obwohl auf der gar kein Bierschaum war, legte die Stirn in zwei Querfalten und betrachtete mich eingehend.
Ich legte meine Stirn ebenfalls in zwei Querfalten und
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