Oliver Hell - Das zweite Kreuz
Sohn das Richtige tat. Für sie, für die Familie, für den Mann, der allem Anschein nach vor zwanzig Jahren einem Verbrechen zum Opfer gefallen war.
Ein Gedanke schob sich in den Vordergrund. Sie überlegte und formulierte dann einen Satz einfach ins Blaue hinein. Sie klappte die Sonnenblende herunter, und zwar so, dass sie die Frau beobachten konnte.
„ Beantworten Sie mir eine Frage, Frau Adelberg. Wie lange hat ihr Sohn noch zu leben?“, fragte sie in die Stille hinein.
Corinna Adelberg, die hinter Hell saß, ließ für einen Augenblick ihre Fassade fallen.
„ Wie kommen Sie darauf, dass …“, fragte sie und brach den Satz ab.
Sie sah in den Augen der Profilerin, dass sie einem Profi auf den Leim gegangen war. Mit einer simplen Frage, die aber ins Schwarze traf.
Sie drehte den Kopf zur Seite.
„ Krebs?“, fragte Dr. Leck.
„ Noch ein halbes Jahr.“
Oliver Hell wechselte einen Seitenblick mit seiner Partnerin. Ein winziges Lächeln flog über sein Gesicht.
„ Frau Adelberg, auch wenn ihr Sohn die Strafe nicht mehr antreten wird, Sie werden zur Verantwortung gezogen für ihre Beteiligung. Sagen Sie uns, wo ihr Sohn diese Menschen gefangen hält. Ein Toter ist genug“, sagte Hell in der Hoffnung einen schwachen Moment bei ihr zu finden.
„ Ist es nicht“, murmelte sie so leise, dass man es vorne nicht hören konnte.
*
Ohne Skrupel zu empfinden, betrachtete Ingo Adelberg mit einem bösen Stolz sein Werk. Er hatte mehrere Tage für die Konstruktion gebraucht. Jetzt schloss er die Türe hinter sich und ging hinauf in das Wohnzimmer, in dem die Beobachtungsgeräte aufgebaut waren.
Aus dem Nebenzimmer hörte er ein Stöhnen. Er stoppte, trat einen Schritt in den Raum, der im Halbdunkel der beinahe bis zum Ende heruntergelassenen Jalousien lag. Von der Straße schien das Licht einer Laterne hinein und warf einige Streifen in den Raum hinein. Auf dem Bett lag die alte Dame, deren Haus er seit über einer Woche in seinen Besitz gebracht hatte.
Im Zimmer roch es nach Urin und nach dem Schweiß alter Menschen.
„ Nur noch ein paar Stunden, dann ist alles vorbei. Dann ist es auch für sie vorbei, meine Liebe“, sagte er mit einem beinahe zärtlichen Ton. Die alte Frau lag mit gefesselten Armen und Beinen da. Im Mund hatte sie einen Knebel. Adelberg trat an das Bett und fuhr ihr zärtlich über die Haare.
„ Keine Angst, Frau Limperich. Ich tue Ihnen nichts, das wissen Sie doch. Etwas trinken?“
Ihre Augen blickten beklommen. Sie nickte unmerklich. Er holte die Sprudelflasche von der Kommode, schenkte etwas Wasser ein. Dann nahm er den Knebel aus dem Mund der alten Dame und hielt ihr das Glas an die Lippen. Sie trank.
„ Sie müssen verstehen, ich habe keine andere Wahl“, sagte er beinahe entschuldigend. In einer Viertelstunde schläft sie wieder, dann wirkt das Schlafmittel, was im Mineralwasser gelöst war, dachte er.
Als er ein Geräusch aus dem Nebenraum vernahm, stellte er das Glas flüchtig auf dem Nachttisch ab. Zu flüchtig, dass es herunterfiel und eine Pfütze auf dem Parkettboden des Schlafzimmers hinterließ. Das Glas auf dem Boden drehte noch eine letzte Runde, als er bereits mit gespanntem Blick vor dem Monitor saß und beobachtete, was dort unten im Keller vor sich ging.
*
N50° 46‘ 08‘‘ E07 03‘ 54‘‘
Lea Rosin tippte Auenweg in ihr Navigationsgerät ein, Klauk lud die Koordinaten in sein GPS-Gerät. Ihr Ziel lag, so wie Klauk es bereits vermutet hatte, im Bonner Norden, beinahe direkt am Rhein. Dort gab es einen kleinen Parkplatz.
Rosin gab Gas und der Opel Insignia schoss durch die Bornheimer Straße. Das Navigationsgerät zeigte fünfzehn Minuten für die Fahrt bis in den Auenweg an. Beide spürten, dass die Zeit drängte. Adelberg setzte sie unter Zeitdruck. Es war nicht zu übersehen, dass er es genoss, mit der Polizei zu spielen. Er brannte geradezu darauf. Hatte er sich am Anfang vornehm zurückgehalten, so setzte er jetzt auf offene Konfrontation.
„ Was denkst Du? Will er uns mit diesem Multi-Cache nur hinhalten?“, fragte Rosin in der Hoffnung, das Klauk den Begriff verstand. Der nahm seine Brille von der Nase und prüfte die Beschaffenheit der Brillengläser.
„ Bei diesem Menschen weiß ich gar nichts mehr. Da tippe ich nicht. Es kann sein, es gibt noch eine Koordinate und noch eine Koordinate und noch eine …“
„ Mal nicht den Teufel an die Wand. Ich will mir nicht die ganze Nacht um die Ohren schlagen“, sagte
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