Olivia: Manchmal kommt das Glück von ganz allein (German Edition)
Mutter und ich schlichen mit ihm zur Feuerstelle. Dort hatte mein Vater schon das Holz aufgestapelt und drei Packungen Marshmallows danebengelegt. Hier in der Stadt war es schon eine ganze Weile Frühling, aber von einem Lagerfeuer war bisher noch nicht die Rede gewesen.
Im Zentrum gab es eine richtige Konditorei. Sie war ganz in Weiß gehalten. Die Stühle waren alle klein und hatten verschnörkelte Beine, die unter sehr dicken Leuten wahrscheinlich zusammenbrechen würden. Es war mir ein Rätsel, wieso man solche Stühle in eine Konditorei stellte. Warum nicht extrabreite Viersitzer, die richtig fette Leute als Sessel für eine Person ausgeben konnten?
Das versuchte ich meinem Vater zu erzählen, als wir uns auf den kleinen Stühlchen niederließen, aber er wollte erst mal die Bestellung aufgeben. Gleich darauf kam schon unser Gebäck und ich startete einen neuen Versuch, doch er unterbrach mich wieder: »Wart mal kurz, Krump. Lass mich erst meinen Schokokuss wie ein anständiger Mensch essen.« Doch der Waffelboden war hart, und er bekam ihn nicht auf die Gabel. Die weiße Schaumfüllung verteilte sich überall auf seinem Teller.
Er sah auf. »Früher mochte ich Schokoküsse so gerne, dass ich fast jeden Tag einen gegessen habe. Bis ich genug davon hatte und mich schon fast übergeben musste, wenn ich nur einen Schokokuss sah. Jetzt esse ich sie nur noch einmal im Jahr.«
»Warum?«
»Weil ich wissen will, ob mir davon immer noch schlecht wird.«
»Und?«
Mein Vater grinste, endlich hatte er ein großes Stück abgebrochen. »So schlecht, dass ich mir vielleicht gleich noch einen bestelle.« Ich aß ein Stück von meinem Erdbeerkuchen mit gelber Pampe.
»Es wird Zeit, dass ich uns mal was koche. Das einzige Gekochte, was wir essen, ist Kuchen«, sagte mein Vater, nachdem wir eine zweite Runde Gebäck bestellt hatten.
»Kuchen wird gebacken«, antwortete ich.
»Und vielleicht sollten wir das nicht mehr jeden Freitag tun, nur wir beide zu zweit.«
Erschreckt sah ich ihn an.
»Ich meine …« Er bekam seinen zweiten Schokokuss, ich ein Törtchen, das nach Banane schmeckte, noch gelber und luftiger war als das erste und mich an Wolken erinnerte. »Ich meine, der Rest der Welt sollte auch ein bisschen Platz bekommen. Wir leben schließlich nicht auf einer einsamen Insel.«
Ich biss in den Kuchen. »Ich mag Kuchen aber zufällig. Vielleicht könnten wir mal einen mit Marshmallows backen.«
»Morgen kaufe ich einen Gasherd für den Salon. Mit dem einen Brenner, der jetzt da steht, kommen wir nicht weit. Und wir sollten mal drüber nachdenken, wo wir später wohnen wollen.«
Ich zuckte zusammen. Hatte er schon von dem Polizisten Carel und seinem Zettel erfahren? Gerade als ich ihm davon erzählen wollte, sprang er auf und rief: »Sonja! Was für eine Überraschung!«
Im Eingang der Konditorei stand eine pummelige Frau mit braunem Pudelhaar. Mit einem blöden Grinsen im Gesicht rief sie »Tata!«. Ich erkannte sie sofort, es war die Frau, die ich vor Kurzem abends im Friseursalon gesehen hatte.
»Das Finanzgenie!«, rief mein Vater.
Schlagartig war mir der Appetit vergangen.
Sonja gab mir ihre klebrige kleine Hand und drückte sehr fest zu. Ich spürte ihre Nägel.
»Olivia«, sagte sie, »du bist ja noch viel hübscher, als dein Vater gesagt hat. Eine frische friesische Schönheit.« Die Blicke, die sie meinem Vater zuwarf, entgingen mir nicht. Sie hatte eine tiefe Stimme, ich konnte riechen, dass sie rauchte.
»Möchtest du auch ein Stück Kuchen?«, fragte mein Vater.
Um ein Haar hätte ich gesagt: »Du darfst ruhig meinen essen«, aber das stimmte ja überhaupt nicht. Ich würde ihn einfach stehen lassen. Eine frische friesische Schönheit! Für wie blöd hielt sie mich eigentlich? Und frisch fühlte ich mich schon gleich gar nicht. Ich kratzte mich am Kopf.
Sonja setzte sich. Ihre Oberschenkel quollen rechts und links über die Sitzfläche.
»Sonja hat mir ihr Fahrrad geliehen«, sagte mein Vater. »Nett von ihr, nicht?«
»Na ja«, meinte Sonja, »ich hatte mir sowieso gerade ein neues gekauft, da war das alte übrig.«
»Ach«, sagte ich, »meine tote Mutter hätte das für Verschwendung gehalten. ›Wenn man nur eine Sache braucht, sollte man auch nur eine haben‹, hat sie immer gesagt.«
Darauf fiel Sonja zum Glück erst mal nichts mehr ein.
»Möchtest du vielleicht ein Stück von meinem Schokokuss?«, fragte mein Vater. Statt zu sagen: »Nein danke, ich stecke mir lieber einen
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