Olympos
ihr goldenes Blut zu vergießen, war er doch vernünftig genug, um zu wissen, dass dies noch ein paar Stunden warten musste.
Kassandra erwachte bei Tagesanbruch und stellte fest, dass sie so gut wie nackt war. Ihr Gewand war zerrissen und in unordentl i chem Zustand, ihre Hand- und Fußgelenke waren mit Seidenbä n dern an die Pfosten eines fremden Bettes gebunden. Was soll dieser Unfug?, dachte sie und versuchte sich zu erinnern, ob sie sich wieder einmal betrunken hatte und an irgendeinen perversen Soldaten geraten war.
Dann erinnerte sie sich an den Scheiterhaufen und dass sie An d romache und Helena bewusstlos in die Arme gesunken war, als er in Flammen aufging.
Scheiße, dachte Kassandra. Meine große Klappe hat mich mal wi e der in Schwierigkeiten gebracht. Sie blickte sich in dem Raum um – ke i ne Fenster, riesige Steinquader, der Eindruck von unteri r discher Feuchtigkeit. Durchaus möglich, dass sie sich in einer pr i vaten Folterkammer befand. Kassandra zappelte und zerrte an den Se i denschnüren. Sie waren glatt, aber fest und gut g e bunden, und sie gaben nicht nach.
Scheiße, dachte Kassandra erneut.
Andromache, Hektors Gemahlin, kam herein und schaute auf die Sibylle herab. Andromaches Hände waren leer, aber Ka s sandra konnte sich mühelos den Dolch im Ärmel des Gewands der älteren Frau vorstellen. Beide Frauen schwiegen eine ganze Weile. Schließlich sagte Kassandra: »Bitte mach mich los, alte Freundin.«
Andromache sagte: »Ich sollte dir den Hals durchschneiden, alte Freundin.«
»Dann tu ’ s doch, du Hündin«, sagte Kassandra. »Und rede nicht darüber.« Sie hatte wenig Angst, weil sie selbst in den sich kale i doskopisch verändernden Bildern der Zukunft in den vergang e nen acht Monaten, seit die alten Zukünfte gestorben w a ren, nie vorhergesehen hatte, dass Andromache sie töten wü r de.
»Weshalb hast du das über den Tod meines Babys gesagt, Ka s sandra? Du weißt doch, dass Pallas Athene und Aphrodite vor acht Monaten ins Zimmer meines kleinen Sohnes geko m men sind und ihn sowie seine Amme abgeschlachtet haben. Sie haben e r klärt, sein Opfer sei eine Warnung – die Götter auf dem Olymp seien nicht erfreut darüber gewesen, dass mein Gatte es nicht g e schafft habe, die Danaerschiffe zu verbrennen, und der kleine Astyanax, den mein Vater und ich Skamandrios nannten, solle das jährige Kalb sein, das sie als Schlachtopfer auserwählt hatten.«
»Quatsch«, sagte Kassandra. »Binde mich los.« Ihr Kopf tat weh. Nach den lebhaftesten Prophezeiungen hatte sie immer einen K a ter.
»Erst wenn du mir sagst, weshalb du behauptet hast, ich hätte Astyanax in diesem blutbesudelten Kinderzimmer durch ein Sklavenbaby ersetzt«, sagte die kaltäugige Andromache. Nun lag der Dolch in ihrer Hand. »Wie hätte ich das tun können? Woher hätte ich wissen sollen, dass die Göttinnen kamen? Und weshalb hätte ich es tun sollen?«
Kassandra seufzte und schloss die Augen. »Da waren gar ke i ne Göttinnen«, sagte sie müde, aber voller Verachtung. Sie schlug die Augen wieder auf. »Als du erfahren hast, dass Pallas Athene Achilles ’ geliebten Freund Patroklos getötet hatte – was sich vie l leicht auch noch als Lüge erweisen wird –, hast du b e schlossen oder dich mit Hekabe und Helena verschworen, das Kind der Amme zu töten, das im selben Alter war wie Astyanax, und die Amme dann ebenfalls zu ermorden. Dann hast du Hektor, Achi l les und all den anderen, die sich auf deine Schreie hin versammelt haben, erklärt, die Göttinnen hätten deinen Sohn getötet.«
Andromaches Augen waren so blau, kalt und unnachgiebig wie das Eis an der Oberfläche eines Gebirgsbachs im Frühling. »We s halb hätte ich das tun sollen?«
»Du hast die Chance gesehen, den Plan der › Trojanerinnen ‹ zu verwirklichen. Unseren Plan in all diesen Jahren. Unsere trojan i schen Männer irgendwie vom Krieg gegen die Argeier abzubri n gen – einem Krieg, der, wie ich prophezeit hatte, mit unser aller Tod oder Vernichtung enden würde. Es war brillant, Androm a che. Mein Beifall für deinen Mut, etwas zu unterne h men.«
»Aber wenn es stimmt, was du sagst, habe ich nur dazu beig e tragen, uns in einen noch aussichtsloseren Krieg gegen die Gö t ter zu stürzen. In deinen früheren Visionen haben wenigstens noch einige von uns Frauen überlebt – zwar nur als Sklavinnen, aber immerhin sind sie am Leben geblieben.«
Kassandra zuckte die Achseln, eine unbeholfene Bewegung, da ihre Arme
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