On se left you see se Siegessäule: Erlebnisse eines Stadtbilderklärers (German Edition)
Mitbewohnerinnen davor hatte ich Anna über eine Wohnungsanzeige kennengelernt. Das Prozedere war immer das Gleiche: Eine Mitbewohnerin zieht aus (Studienende oder -abbruch, Job in einer anderen Stadt oder gemeinsame Wohnung mit dem Freund), ich gebe auf einer Internetplattform für Studentenwohngemeinschaften eine Anzeige auf, in der ich explizit nach weiblichen Mitbewohnern suche. Daraufhin melden sich drei Amerikaner, die die Anzeige nicht gelesen haben, vier Italiener oder Franzosen, die noch gar nicht in Berlin sind, aber versichern, dass sie sehr gern einziehen würden, zwei Asiaten, an deren Vornamen ich ihr Geschlecht nicht erkennen kann, drei spanische Mädchen, die das Zimmer zu dritt beziehen wollen, und vier deutsche Männer, die Sätze schreiben wie »Joa, ich bin nen ganz lockerer Typ« oder »Ich liebe Oasis und hasse Rassismus«. Die verbliebenen acht bis zehn Frauen lade ich zum Tee in meine Küche ein. Die sympathischste kriegt das Zimmer.
In den folgenden Wochen stellt sich dann heraus, ob die neue Mitbewohnerin eher ihr eigenes Süppchen kocht und sich damit in ihr Zimmer verzieht, weil sie festgestellt hat, dass sie mich dann doch ganz schön seltsam findet, oder ob wir zusammen das Süppchen kochen und es in der Küche verspeisen, weil wir wissen, dass wir beide ganz schön seltsam sind.
Mit Anna lief alles gut. Wir verstanden uns von Anfang an bestens, kochten und tranken zusammen und waren bald befreundet. Ein Idealfall. Manchmal hatte man eben auch Glück.
»Ich hab einen neuen Job«, erzählte ich ihr, als wir beim Grünen Veltliner saßen. »Ich werde auf so einem Touristenschiff auf der Spree die Erklärungen sprechen.«
»Ach?«, sagte sie. »Die Notausgänge sind mit dem Wort EXIT gekennzeichnet. Bei einem plötzlichen Druckabfall fallen von der Kabinendecke Sauerstoffmasken. Ziehen Sie diese über Mund und Nase, und atmen Sie gleichmäßig.«
»Hab ich Flugzeug gesagt?«, fragte ich.
»Nö«, sagte sie. »Ich musste mir nur gerade vorstellen, wie du in einer Stewarduniform aussiehst.«
»Ich erkläre die Stadt. So eine Art Fremdenführer. Links sehen Sie das, rechts sehen Sie das und so.«
»Was? Son Ansageräffchen?«
»Äh … ja? Findest du das jetzt schlimm?«
»Na, ich weiß nicht. Ist das nicht ein bisschen dämlich?«
»Also, Entschuldigung! Du tust ja so, als hätte ich gesagt, dass ich ab morgen mit einem Mikrofon um den Hals im Einkaufszentrum stehe und Autopolitur verkaufe.«
Arbeit war Anna immer sehr wichtig, und sie hatte eine ausgeprägte Skepsis gegenüber desorientierten Langzeitstudenten und Menschen, die glaubten, sich mit dem Verticken von Konzertkarten oder Schlumpffiguren aus dem Überraschungsei auf eBay über Wasser halten zu können. Offenbar stand auch Stadtbilderklärer auf ihrer Liste der unehrenhaften Jobs für gescheiterte Existenzen.
Sie selbst war nur knapp an diesem Schicksal vorbeigeschrammt. Sie hatte eine wacklige Jugendzeit hinter sich, in der sie mit den falschen Leuten in der falschen Ecke der Fußgängerzone ihres Heimatstädtchens gesessen, das falsche Dosenbier getrunken und das falsche Gras geraucht hatte. Mit der Schule war sie nicht mehr klargekommen, dazu kam die schmutzige Trennung ihrer Eltern, die die Sache nicht vereinfacht hatte. Ein halbes Dutzend Narben auf ihrem linken Unterarm erinnerte nicht nur sie selbst an diese Zeit. In Trotz und Wut war sie schon mit siebzehn von zu Hause ausgezogen, um endlich arbeiten zu können und sich nichts mehr erzählen lassen zu müssen. Weil sie nichts anderes konnte, ging sie kellnern. Eigentlich hatte sie damit die besten Voraussetzungen, um ihr Leben nicht im Griff zu haben. Bei ihr kam es jedoch anders. Sie ließ sich wirklich nichts erzählen, arbeitete erst in Kneipen, später in Konzertlocations und zeigte eine Selbständigkeit, die mancher Langzeitstudent mit dreißig noch nicht erreicht hat. Wenn man als achtzehnjähriges blondes Mädchen in einer Fußballereckkneipe arbeitet, lernt man, sich nichts gefallen zu lassen, oder man geht unter.
In Berlin arbeitete sie in einem Stylerockschuppen namens Black Death und einer Neuköllner Bar mit Bühne und war in beiden Läden schnell über die Mannschaftsgrade hinausgekommen.
»Ich bin da mal bei einem mitgefahren, der die ganze Zeit dämliche Witze gemacht hat«, sagte sie. »Wenn Sie weiter flussaufwärts fahren, können Sie in Köpenick in die Dahme gleiten‹ und so ein Schwachsinn.«
»Oje.«
»Dann steht da beim Reichstag
Weitere Kostenlose Bücher