Ondragon: Totenernte: Mystery-Thriller (German Edition)
kniete sich neben die blutüberströmte Gestalt am Boden. Ondragon beeilte sich, ihr zu folgen. Mit zusammengepressten Lippen und schussbereiter Waffe blickte er auf den jungen Mann hinab, dem die Madame gerade einen Finger an den Hals legte, um den Puls zu fühlen. Sein Gesicht war pechschwarz, trotz des erlittenen Blutverlustes, seine Augen geschlossen. Die Kleidung, die er trug, war mit Blut durchtränkt, wovon das meiste allerdings schon getrocknet war, bis auf jene Stellen, an denen es aussah, als sei er von einer Axt oder Machete getroffen worden. Dort glänzte es feucht und in frischer Röte.
Nüchtern zählte Ondragon vier tiefe Wunden am Oberkörper des Jungen, die ihn wie offene Münder anlächelten. Der linke Arm war beinahe vom Ellenbogen abgetrennt und wurde nur noch von einem faserigen Muskelstrang und etwas Haut gehalten. In einem unnatürlichen Winkel lag er hochgeklappt neben dem Oberarm.
„Er lebt noch!“, sagte die Madame aufgeregt und strich dem übel zugerichteten Jungen über die Wange.
„Was für eine widerwärtige Sauerei“, sagte Roderick, hob das Gewehr und zielte auf die Menge. „Wer hat dem Jungen das angetan?“
„Die Leute sagen, er sei heute Morgen so aus den Bergen zurückgekommen. Niemand weiß, wer das getan hat. Der Junge soll ein Mitglied einer Expedition sein, die vor fünf Tagen das Dorf verlassen hat.“
„Was für eine Expedition?“
„Das wollen sie nicht sagen.“
„Verdammte Bagage! Die lügen doch!“ Ondragon drehte sich zu Rod um, der alarmiert die Umgebung sondierte. Er wusste, dass der Brite Erfahrung mit solchen Situationen hatte und war froh, ihn dabeizuhaben.
„Heiliger Loco“, rief die Madame erneut aus. „Er bewegt die Lippen.“ Sie legte ihr Ohr an den Mund des Verwundeten und lauschte. Es schien ein Wunder zu sein, dass er überhaupt noch lebte, denn die Wunden sahen so aus, als seien sie dem Burschen schon vor ein paar Tagen beigebracht worden, außerdem hatten sie sich übel entzündet. Und die Feuchtigkeit auf der zerschlitzten Kleidung war, so erkannte Ondragon jetzt, nicht nur Blut, sondern auch Eiter und Sekret. Was zur Hölle war mit dem armen Kerl passiert?
Mit trauriger Miene sah die Madame wieder auf. Der Kopf des Jungen war zur Seite gekippt. Offensichtlich war er seinen schweren Verletzungen soeben erlegen. Ondragon blickte zu den Felsen der Berge hinauf. Wie hatte der Kerl sich derart verstümmelt den ganzen Weg bis hierhin schleppen können?
Die Madame erhob sich und ging auf den alten Mann zu, der sie vorhin so wortreich beschimpft hatte. Mit düsterer Stimme sprach sie ihn an, und Ondragon sah, dass der Mann ängstlich zurückwich.
„Was ist los?“, fragte er und fluchte innerlich darüber, dass er kein Wort verstand.
Aber die Madame antwortete nicht, sondern starrte den Mann weiterhin böse an. Dann sagte sie etwas auf Kreolisch, das wie ein Befehl klang, und kurz darauf löste sich die Gruppe auf, wobei sie den Leichnam des Jungen forttrugen. Der Alte blieb jedoch da und verneigte sich widerwillig. Mit einem Wink bedeutete er ihnen, ihm zu folgen. Die Madame nickte Ondragon zu, der es zuließ, dass sie dem Greis zurück zum Dorf folgten.
„Ich habe ihm gesagt, dass ich ein Dokte Feuilles und eine Mambo bin und dass ich den Priester von Nan Margot sprechen will“, sagte die Madame leise, als sie nebeneinander hergingen. „Der Mann sagt, dass die Mambo die mysteriöse Expedition angeführt hätte. Bis auf den armen Jungen sei jedoch bislang niemand zurückgekehrt. Ich habe ihn aufgefordert, uns zum Tempel zu bringen, der in Abwesenheit der Mambo vom La Place, dem Zeremonienmeister, bewacht wird. Dort werden wir beratschlagen, wie es weitergehen soll. D‘accord ?“
„ D‘accord! “, stimmte Ondragon grimmig zu.
Sie gelangten an ein Haus, das größer war als die anderen im Dorf, und umrundeten es. Dahinter kamen ein Peristyl, ein Altarraum und die Kay-mystè in Sicht – das Heiligtum des Humfó, wie die Madame erklärte. Das Dach der Kay-mystè war eingestürzt und die „Hütte des Geistes“ dadurch nicht begehbar. Die Madame besah sich den Schaden und forderte den alten Mann auf, dafür zu sorgen, dass niemand bis auf den La Place das Gelände des Humfó betrat, solange sie hier seien. Dann sah sie Ondragon an. „Ich empfehle, unser Lager dort im Schatten des Peristyls aufzuschlagen. Ich werde einige der Menschen behandeln und versuchen, etwas über die Mine herauszufinden. Die Mittel zur Behandlung werde
Weitere Kostenlose Bücher