Ondragon: Totenernte: Mystery-Thriller (German Edition)
willenloses Geschöpf, zwar mit verstärkten Körperkräften, aber ohne Geist; ein Sklave, der tut, was man ihm befiehlt. Dies sei, laut der Madame, das schrecklichste Schicksal, das einen Haitianer treffen könne. Doch auch diese Erklärung hatte Ondragon nicht von der Existenz von Zombies überzeugt. Das Ganze war einfach zu abgedreht.
Aber Madame Tombeau hatte nicht lockergelassen und ihn beschworen, wenigstens ein kleines Amulett zu tragen, das sie ihm vorne im Laden in die Hand gedrückt hatte, gegen die Zombiemagie! Ondragon schnaubte abfällig. Allmählich kam er sich vor wie die leere Flasche, in die sie ihren Hexen-Humbug zu füllen gedachte.
Mit einem weiteren Kopfschütteln stopfte er das säckchenartige Amulett in die Hosentasche und holte sein Handy hervor. Es musste eine andere Erklärung für das Verschwinden von Boličs Leiche geben. Er wählte die Nummer seiner Assistentin. Vielleicht hatte sie ja etwas Neues.
Doch leider verneinte Charlize seine Frage, und Ondragon erinnerte sie schroffer als beabsichtigt an die Videoaufnahmen. Danach legte er auf, steckte sich missmutig einen Kaugummi zwischen die Zähne und ging zurück zum Hotel, wo er seine Kleidung wechselte. Für den Besuch bei Sylvester Stern wollte er seine Sig Sauer mitnehmen und nicht bloß auf das Messer vertrauen, dass er versteckt unter seiner Touri-Kluft am Bein getragen hatte. Also legte er sich das Holster an und zog eine leichte Windjacke darüber. Die Flip Flops tauschte er gegen seine Cowboystiefel.
Auf der kurzen Fahrt nach Chalmette versuchte Ondragon erneut, Sylvester Stern ans Telefon zu bekommen. Leider erfolglos wie immer.
Ohne Umwege geleitete ihn das Navi in seinem iPhone durch die Straßen des trostlosen Vorortes von New Orleans. Chalmette war damals von Katrina komplett zerstört worden und zählte deswegen heute nicht gerade zu den gehobenen Adressen. Dennoch befanden sich mittendrin ein paar ganz ansehnliche, neu gebaute Häuser. Das von Stern lag ganz am Ende einer Straße, die von einem Kanal mit Damm begrenzt wurde. Dahinter folgte meilenweit nichts als tückisches, moskitoverseuchtes Sumpfgebiet.
Ondragon parkte den Wagen um die nächste Ecke an einer größeren, unbebauten Fläche und ging zurück zu Sterns Domizil, das einen ähnlichen Verwahrlosungsgrad wie das von Ellys‘ aufwies. Es war offenkundig, dass jene Junggesellen sich nicht besonders liebevoll um ihren Grund und Boden kümmerten, auch Sterns Vorgarten war mehr ein Unkrautparadies als grüner Rasen.
Er klopfte an Sterns Tür und sah sich um. Die Nachbarhäuser sahen verlassen aus, zumindest ließ sich niemand blicken und es standen auch keine Autos in den Auffahrten. Wahrscheinlich waren die Leute bei der Arbeit oder im Supermarkt, wie es sich für anständige Amerikaner gehörte.
Nachdem auch beim zweiten Klopfen niemand aufmachte, entschloss sich Ondragon, von hinten in das Haus einzudringen. Er streifte sich seine Handschuhe über und schlich durch den Garten zur Hintertür, die er nach wenigen Augenblicken geöffnet hatte. Mit gezogener Waffe betrat er das Haus durch das Wohnzimmer und schaute sich in alle Richtungen um. Ein leicht säuerlicher Geruch drang in seine Nase und sofort fühlte er sich an die verbrauchte Luft in Boličs Zimmer erinnert. Schnell ging er durch die Räume. Zuerst unten, dann im oberen Stockwerk, wo der Gestank stärker wurde. Als er das Schlafzimmer öffnete und auf das Bett blickte, war er wenig überrascht.
Sylvester Stern lag mit dem Rücken auf der Matratze, die Augen geschlossen, das Gesicht friedlich. Das Laken war halb zurückgeschlagen, darunter kam ein Pyjama zum Vorschein. Ein Arm hing aus dem Bett und Bugs Bunny grinste ihm von der entblößten Haut des kräftigen Unterarms entgegen. Kein Zweifel, das war der blonde Mailman aus Ellys‘ Fotogalerie.
Ondragon trat ans Bett und überprüfte Puls und Atmung. Danach stach er Stern zur Vorsicht mit dem Finger in die weiche Stelle hinter dem Ohr, was sehr schmerzhaft gewesen wäre, wenn der Mann nicht schon vor längerer Zeit seinen letzten Atemzug getan hätte. Nachdenklich richtete Ondragon sich auf. Es war das gleiche Szenario wie bei Bolič. Und es sah wahrlich nicht so aus, als würde Stern demnächst von den Toten auferstehen, um als Zombie die Gegend unsicher zu machen.
Er machte mehrere Fotos von der Leiche und suchte anschließend das Haus nach Sterns Handy und Laptop ab. Aber er fand nichts. Beides war verschwunden wie bei Ellys.
Als nächstes
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