One Night Wonder
Diele greife ich mir meinen Mantel und ziehe die Tür schnell hinter mir zu.
Noch im Flur höre ich sie brüllen. Schnell verschwinde ich aus dem Haus, auf die Straße Richtung Bahnstation. Ich bin gerade noch dabei, die traumatische Episode zu überdenken, als mein Handy klingelt. Es ist wieder mal Mama.
»Hast du eigentlich die Absicht, vor Weihnachten noch mal vorbeizukommen?«
»Hm, ja.«
»Wo steckst du überhaupt?«
Gute Frage. Soll ich ihr etwas antworten wie »Oh, ich habe mit einem angehenden Schauspieler eine wilde Nacht verbracht, aber morgens stand dann auf einmal seine Freundin in der Tür und wollte uns am liebsten lynchen. Jetzt sitze ich ungewaschen in der S-Bahn und fahre nach Hause, und die Leute um mich herum wundern sich, warum es hier so nach Rotwein riecht«?
Ich beschränke mich auf ein wertungsfreies: »Unterwegs.«
»Komm doch heute Nachmittag vorbei, ich backe Kuchen!«
»Ach, ich weiß noch nicht.« Ich bin mir sicher, sie meint es nur lieb, aber jetzt möchte ich einfach nur nach Hause. Und wahrscheinlich früh ins Bett.
»Hast du schlechte Laune?«
»Nein.«
»Ja gut, ich hab nur so gefragt. Du kannst ja später noch mal anrufen. Wusstest du, dass Oma und Opa Weihnachten eine Kreuzfahrt machen?«
»Waaaas?« Plötzlich bin ich hellwach. Meine Mitreisenden gucken zu mir her. Huch, vielleicht war das doch etwas laut.
»Ja, sie fahren weg, ich war genauso fassungslos. Und das in Opas Alter! Ich hab Oma gefragt, ob sie wissen, dass das Schiff nicht direkt vor ihrer Haustür hält, um sie an Bord zu nehmen. Und stell dir vor, was sie gesagt hat: Sie würden ab Griechenland fahren, die Flüge dahin wären schon gebucht!«
»Krass«, sage ich und bin eigentlich immer noch sprachlos.
»Ja, total krass«, stimmt mir Mama etwas ungelenk zu.
»Ja und jetzt? Feiern wir zu dritt?«
»Ähm, nein.« Ihre Stimme verheißt nichts Gutes. »Es gibt nämlich noch eine zweite Neuigkeit. Und die hat für uns auch unmittelbar mit Weihnachten zu tun.« Der Restalkohol in meinem Blut verhindert, dass ich ihr folgen kann.
»Hä?«
»Dein Onkel wandert samt Familie nach Spanien aus. Und deshalb kommen sie Weihnachten zu uns. Sie haben das Haus schon verkauft und sitzen quasi auf gepackten Koffern. Zwischen den Feiertagen und Neujahr fliegen sie rüber und beziehen die neue Wohnung, dann ist wohl der Umzugswagen auch da. Und das alles haben wir erst gestern am Telefon erfahren.«
»Oh«, sage ich matt.
»Ja, das habe ich auch gedacht.«
»Hast du sie eingeladen?«
»Nein, dein Vater.« Ihre Stimme verrät eindeutiges Missfallen. »Und wenn ich wüsste, was meine Mutter sich bei der Schnapsidee mit der Kreuzfahrt gedacht hat, wäre ich auch um einiges schlauer. In diesem Alter noch!«
»Aber sind Kreuzfahrtschiffe nicht voll von Rentnern?«
»Ja, aber dein Großvater ist über achtzig!«
»Na ja, wenn er meint, er kann es, dann lass sie doch. Und was wollen Onkel Jochen und Tante Angelika eigentlich in Spanien? Nehmen sie Simone mit? Die geht doch noch zur Schule.«
»Sie eröffnen dort eine Art Strandcafé. Was für ein irrwitziger Plan! Aber die Familie deines Vaters ist ja bekannt für so was. Als wenn es nicht schon Hunderte solcher Buden dort gäbe. Und was wollen ein Sozialpädagoge und eine Verwaltungsangestellte mit einem Café? Das ist doch bescheuert. Und das Kind nehmen sie so einfach aus der Schule und erwarten, dass es von einem zum anderen Tag perfekt spanisch spricht. Ich sage dir, drei Monate, länger nicht. Der Reinfall ist vorprogrammiert.«
Mama kann reden, ohne Luft zu holen, das fällt mir gerade wieder auf.
»Die arme Simone«, sage ich.
»Ja, schrecklich egoistisch. Und wie ist es, kommst du vorbei?« Ich denke an meine etwas übernächtigte Verfassung und mein siffiges Aussehen.
»Mama, sei nicht böse, ich bin so müde heute.«
»Wirst du krank? Und warum bist du dann unterwegs?«
»Ich habe zu wenig geschlafen.« Am anderen Ende der Leitung höre ich die Zahnräder in ihrem Kopf rattern.
»Ich will es gar nicht wissen«, sagt sie dann, obwohl sie durchaus neugierig klingt.
»Na gut! Ich rufe dich an und sage dir, wann ich vorbeikomme, okay?«
»Ja, okay.«
»Und grüß Papa von mir!«
»Mach ich! Ciao, Kind!«
»Tschüss!« Ich verstaue das Handy in meiner Tasche und betrachte die Landschaft hinter dem verkratzten Bahnfenster. Wenn man Leuten erzählt, man wohne im Rhein-Ruhr-Gebiet, sehen einen die meisten mit einer Mischung aus Mitleid und Entsetzen
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