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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Kaminer
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von ihm geschundenen Seelen beten sollten, bis sein Gold aufgebracht war. Damals war Gold noch fest im Kurs und verrostete nicht, es hätte für hundert Jahre Gebete gereicht. Dabei sollten alle Seelen beim Namen genannt werden, damit Gott auch wusste, um wen es dabei ging. An einige Namen konnte sich Iwan der Schreckliche erinnern. An viele andere haben ihn seine Untertanen erinnert, doch die meisten blieben vergessen. Niemand kannte mehr ihre Namen. Niemand erinnerte sich mehr an sie. Iwan dem Schrecklichen war es peinlich, dass seine Rechnung nicht aufging. Er konnte so leicht all diesen Menschen das Leben nehmen, doch er konnte keine einzige ihrer Seelen retten. Er wusste nicht einmal, wie sie hießen. Für diese Menschen dachte sich Iwan der Schreckliche eine neue Gebetsformel aus. Die Popen sollten in diesen Fällen beten: »Oh lieber Gott, lass die Seele von Du weißt schon wem in Frieden ruhen.« Noch Jahre nach dem Tod des Zaren läuteten die Glocken, und die Popen baten um Vergebung für die unschuldig geschundene Seele von Du weißt schon wem, bis das alte Gold des Zaren alle war und das neue zu rosten begann.
    Mein Onkel und ich zahlten und gingen in die Nacht. An manchen Ecken sieht Berlin nachts trotz des Tourismus gespenstisch, gar ausgestorben aus. Im Haus auf der anderen Straßenseite brannte in keinem einzigen Fenster Licht. Keine Fußgänger und kein Auto kamen vorbei. Nur wir waren wie zwei verdiente Invaliden mit Rollkoffer auf der Invalidenstraße mitten in der Nacht unterwegs. Zum Glück war es nicht weit bis zum Döner-Paradies. Seine leuchtende Neonreklame konnte man schon von weitem sehen. Vor dem Imbiss stand tatsächlich ein Taxi und drei in Leder verpackte, unrasierte Typen, die trotz der späten Stunde einen nüchternen Eindruck machten und uns aufmerksam anschauten. Ihre Blicke konzentrierten sich auf unseren Koffer und strahlten eine Fröhlichkeit aus, die uns verwirrte. Sogar mein Onkel, ein mutiger Mensch, hatte, glaube ich, ein mulmiges Gefühl in Anbetracht der möglichen Folgen dieser Begegnung. Noch am Bahnhof hatte er mich gefragt, ob es nicht gefährlich sei, nachts durch Berlin spazieren zu gehen, und wie es um die Kriminalität in der deutschen Hauptstadt bestellt sei. Ich gab mir Mühe, den Onkel zu beruhigen, doch meine geringe Erfahrung kann fremde Ängste nicht beseitigen. Dazu kenne ich Berlin viel zu wenig. Wir bewegen uns in der Stadt kaum nachts und wenn, dann nur zur Russendisko, unserer Tanzveranstaltung. Ich war zum Beispiel noch nie im Döner-Paradies gewesen und wusste nicht, wie die Leute dort drauf waren.
    In unserer Diskothek sind die Menschen nicht streitsüchtig, das heißt, grundsätzlich ist natürlich nichts ausgeschlossen, aber man muss sich schon sehr anstrengen, um dort verprügelt zu werden. In zehn Jahren Russendisko gab es so gut wie nie Streit. Einmal hat ein Mitarbeiter der ukrainischen Botschaft versucht, die Eingangstür zu zertrümmern, weil sie sich aus Prinzip nur nach draußen und nicht nach innen öffnen lässt. Ein andermal haben fünf Inder in der Schlange am Tresen untereinander Streit angefangen, wahrscheinlich um ihre Kastenunterschiede zu betonen und damit zu klären, wer am Tresen Vorrang hatte.
    Obwohl – vor kurzem hat mein Freund Leonid es doch geschafft, im Café Burger k.o. zu gehen. Er hatte eine Auseinandersetzung mit einer Gruppe englischer Touristen, die ihn sehr schnell und sehr sportlich, englisch eben, links und rechts auf die Backe boxten. Mein Freund wunderte sich sehr über diese englische Sportlichkeit. Er hatte sich eigentlich für unbesiegbar gehalten, und im Nachhinein konnte er den Engländern nichts vorwerfen. Er hatte den Streit selbst angefangen und war zu Boden gegangen, noch bevor er den Engländern Angst machten konnte.
    Tja, ich weiß, das ist keine gute Beschreibung einer Schlägerei, sie hört sich wahrscheinlich zu alltäglich an. Das liegt aber an meiner ungelenken Schreibart. Ein englischer Literat hätte über die Schlägerei bestimmt anders, spannender geschrieben. Er hätte den Vorfall mit massivem rhetorischen Einsatz vom dumpfen Alltag abgehoben wie in der Literatur üblich: Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten. Nichts deutete auf etwas Außergewöhnliches oder gar auf eine Gefahr hin. Doch plötzlich tauchte wie aus dem Nichts ein unbekannter Russe auf. In der Hand hielt er eine Bierflasche … Noch spannender wäre die Geschichte gewesen, hätte mein Freund einen Hammer statt einer

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