Online Wartet Der Tod
alles anders. Er hatte nichts gegen sie persönlich. Noch nicht. Jedenfalls nicht bewusst. Aber sie zu verfolgen, ihr aufzulauern, heimlich in ihr Leben zu schlüpfen – das konnte trotzdem Spaß machen. Er fand es erstaunlich, wie ungeduldig er dieser Erfahrung entgegenfieberte.
Er saß am Fenstertresen des Starbucks-Shops an der 46. Straße und trank in kleinen Schlucken von seinem Oregon Chai. Währenddessen überwachte er die beiden Drehtüren des Bürogebäudes gegenüber, auf der anderen Seite der Straße, die neuerdings lächerlicherweise Avenue of the Americas hieß. Bis jetzt hatte er sieben Bilder von Megan gesehen. Auf dem letzten hatte sie ein weißes Negligé getragen. Aber nun würde er sie das erste Mal in persona vor sich haben – in Fleisch und Blut sozusagen. Er war nicht sicher, ob er sie erkennen würde.
Aber genau sechs Minuten und achtundneunzig auf die Straße tretende Büromenschen später kam sie. Etwas unbeholfen bahnte sie sich ihren Weg nach draußen, in der einen Hand eine dicke Büchertasche, in der anderen eine Tüte von Macy’s. So viel zu ihrer Behauptung, dass sie nicht viel zum Leben brauche; die seltene Frau, die sich aus Shoppen nichts machte.
Das war nicht die einzige Art von Konsum, für die sie eine Schwäche hatte, auch diesbezüglich hatte sie gelogen. Die Fotos, die sie geschickt hatte, selbst das gewagte, endeten praktischerweise alle knapp unterhalb des üppigen Busens. Eine Ganzkörperaufnahme gab es, aber auf der verdeckten zwei Hosenscheißer – Nichte und Neffe, wie sie behauptet hatte – ihre untere Hälfte. Als er sah, wie sie sich aus dem Gebäude arbeitete, musste er lächeln. Sie war ein richtiges Dickerchen. »Sportlich« konnte sie sich allenfalls nennen, wenn sie dabei an Sumoringen dachte. So vorhersehbar. So typisch. Eine manipulierende kleine Lügnerin.
Im Laufe der Jahre hatte er begriffen, dass alle logen – nicht nur anderen, sondern auch sich selbst gegenüber. Sie redeten sich ein, dass sie dabei von Gutmütigkeit und Anstand getrieben wurden. Ihre Schuldgefühle beschwichtigten sie, indem sie für ihr selbstsüchtiges Handeln tausend Ausreden hervorbrachten. Megan hatte sich zweifellos für jede ihrer kleinen Sünden Rechtfertigungen zurechtgelegt. Er sah direkt ihr Gesicht vor sich, wie sie sagte: »Das habe ich mir verdient«, und ein weiteres Stück Schokoladen-Käsekuchen in sich reinschaufelte.
So war es nun mal mit den Durchschnittsmenschen. Sie waren verlogen und dumm, wobei eins das andere begünstigte. Nur ein Dummkopf glaubte all die Lügen, die die meisten Leute sich erzählten. Nur ein vollkommen Ahnungsloser konnte so dumm sein. Er dagegen war anders. Er war ehrlich – zumindest sich selbst gegenüber – und keinesfalls dumm.
Megan hatte ein ganz hübsches Gesicht, volle rosige Wangen und dunkelbraune Augen – jedenfalls beschrieb sie sie bei FirstDate als dunkelbraun –, dazu wippende braune Locken. Sie erinnerte ihn an die Kinder aus der Campbell’s-Dosensuppenwerbung. Oder an die Cabbage-Patch-Puppen, die zu seiner Kinderzeit unter den verwöhnten Mädchen begehrte Sammelobjekte gewesen waren.
Sein Herzschlag beschleunigte sich leicht, als er den Coffeeshop verließ und mit etwa einem halben Block Abstand die Verfolgung aufnahm. Jetzt kam der schöne Teil. Jemanden online ausspionieren war das eine, aber bei Amy war ihm klar geworden, dass ihm die Live-Version noch viel mehr Spaß machte.
Schon früh hatte er beschlossen, dass das nächste Opfer eine Frau sein musste, die von sich aus Kontakt zu ihm aufgenommen hatte. So machte eigentlich sie den ersten Schritt. Und es sah so aus, als ob er nur mitspielte. Außerdem hatte er zwei weitere Dinge festgelegt: Irgendwann würde er ihr einen Wink geben, er würde ihr einen Grund zur Vorsicht liefern. Und wenn sie je sagen sollte, er solle sie in Ruhe lassen, würde er sich daran halten. So einfach war das. Er verlieh ihr die Macht, sich aus seinem Spiel zurückzuziehen, wenn sie das wollte.
Auf dem Weg die Treppe zur Linie 7 hinunter dachte er darüber nach, warum er sich für Megan entschieden hatte. Sie hatte ihm eine Mail geschickt und damit sein erstes Kriterium erfüllt. In dieser ersten Mail hatte sie die These gewagt, dass sie viel gemeinsam hätten, weil sie Sakrileg – der Da Vinci Code auch so gern gelesen hatte. Aber in seinem Posteingangsordner herrschte kein Mangel an langweiligen Mails von Frauen, die alle meinten, in dem Mann mit dem durchschnittlichsten
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